Der Aufgang Des Abendlandes
subjektive Idealismus überredet uns nicht, daß
außer uns nichts da sei, wohl aber ahnen wir, daß Außen und Innen im letzten Grunde das nämliche sind.
Möglichkeit unendlichen Bewußtseins entspricht genau der Möglichkeit unendlicher Außenweltbewegung.
Unsere Zeitzerlegung ist keine Empfindung, sondern erfahrungsmäßiger Verstandesmodus, sich mit Kausalbewegung ins
reine zu setzen: unwillkürlicher Beweis, daß wir ein Außer-uns zwar anerkennen, aber unserm Bedürfnis
unterwerfen, daher Unabhängigkeit unserm Erkenntnisvermögen immanent ist. Aristoteles meint: »Die Seele
beaufsichtigt den Körper wie der Herr den Sklaven, Vernunft die Phantasie wie die Obrigkeit den freien
Bürger«, was Bacon überraschend kommentiert, der Bürger werde seinerzeit selbst die Obrigkeit. Homers
Phantasie wurde gesetzgeberisch für Hellas, Bulwer setzt in »England und die Engländer« auseinander,
wie Byron eine ganze Generation färbte, deshalb ist nur des Eklektikers Cousin würdig: »Die Menge hat ein
magnetisches Übergewicht, das stärkste Seelen überwältigt«, vielmehr wird die Menge zuletzt von
stärkerer Individualität bezwungen. Doch auch diese Regel hat Ausnahmen, die nicht »bestätigen«,
wie man närrisch sagt, sondern die Norm umstoßen. Taine meint, der wahre Beweis für Prinz Alberts
Sterblichkeit (siehe Mills Gleichnis) bestehe darin, daß die unbeständige chemische Körpermischung sich
auflösen, also Sterben zur menschlichen Wesenheit gehören müsse, es gebe absolute Tatsachen, aus denen selbst
die Ameisen, wenn sie philosophieren könnten, die gleichen abstrakten Begriffe bilden würden. Warum sollten Ameisen
nicht philosophieren, ihre Zweckmäßigkeitsbeobachtung übertrifft die menschliche, sie analysieren erfolgreich
jedes Hindernis, doch ihre Erfahrungsurteile ziehen sicher nicht gleiche Schlüsse wegen grundverschiedener Werkzeuge.
Notwendigkeit des Sterbens durch chemischen Zerfall ist abstrakte Unterschiebung von Trivialerfahrung. Warum sollte ein
chemisches Aggregat sich nicht aufrecht halten durch beständige kosmische Zufuhr? Da könnte man ja behaupten, alle
Sonnensysteme müßten sich eines Tages auflösen, weil ihre chemische Zusammensetzung endlichen Zerfall
bedingt, Helium und Radium scheinen aber unzerstörbare Stoffe, und es wäre möglich, daß im Menschen
verborgene Radioaktivität waltet, den Elektronen sehr angemessen. Daß unser Körper durch stete Verminderung
chemischer Beharrungsfähigkeit eingehen müsse, ist bloße Behauptung. Die Japaner sagen, jeder könne bei
natürlicher Hygiene über 100 Jahre leben, die Inder sagen, daß Bestimmte und Besondere viele Jahrhunderte
leben, Erfahrung sagt, daß Longävität und Mortalität ungemein abwechseln. Also läßt sich ein
Zustand denken, wo Körperzellen durch stete Neubelebung großer Blutkörperchen bis ins Unendliche aushalten,
ein Lebenselixier ist so wenig undenkbar wie Goldmachen der Alchemisten, Identität von Menschheit und Sterblichkeit
daher nur abstrakte Voraussetzung. Alles rationalistische Denken handelt nach Aristoteles: »Man beweist ein Faktum,
indem man seine Ursache zeigt.« Als ob man die Ursache von irgendetwas folgern könnte, was nicht schon als
bewiesene Tatsache vorliegt, Ursache einer Nichttatsache kann man nicht finden! Man dürfte also mit gleichem Recht
sagen: Man beweist eine Ursache, indem man ein Faktum zeigt. Gesetzt den Fall, man bewiese die Ursache eines erfundenen
Monstrums, wie Leonardo und die Griechen es als Phantasiespiel aufzeichneten, so würde jedermann lachen, und doch
wäre bedeutungsvoll, wenn man Ursachen definieren könnte, unter denen das erfundene Monstrum möglich
wäre. Solch Mitwissen von Naturgeheimnissen schließt sich aber glatt aus, man kann Ursachen nur aus Bestehendem
ableiten, also nie abstrakt. Jeder Beweis ist Hypothese, der Denkprozeß ist umgekehrt: Man nimmt die Tatsache als
Beweis und konstruiert daraus eine Ursache. Ein Mord ist bewiesen durch Tatsache, nachher fahndet man nach dem Täter,
Rationalismus aber schwindelt, er werde den Mord, der keines Beweises bedarf, dadurch beweisen, daß er den Täter
findet. »Jede Feststellung ist verneinend« (Spinoza), jedes bestimmbare Ding trennt sich von allen übrigen,
Kausalität ist Voraussetzung zeitlicher Trennungen. Doch jedes Zukunftsziel gegenwärtigen Ernährungsdrangs ist
schon eins mit dessen Vergangenheitsursprung, denn Hunger als Urgefühl war allgemeine Natureinrichtung
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