Der Aufgang Des Abendlandes
in die er das Neben- und Nacheinander einreiht, ist Selbsterhaltungstrieb, den er ohne die Außenwelt nie
ausbilden würde. Ist letztere nur Vorstellungserscheinung, so ist doch ohne sie Raumanschauung undenkbar. Das sind nicht
apriorische, sondern Anpassungspostulate, Zeit ist identisch mit Kausalität. Schon das Kind erfährt, daß es
Nahrung bekommt, wenn es lutscht, daß es sich weh tut, wenn es vom Stuhle fällt und daß dies in
Abständen aufeinanderfolgt; auch die Katze weiß, daß es Mittagessen gibt, wenn die Kartoffeln dampfen oder
man Messer wetzt, Raubtiere lernen, wann Fütterungszeit ist. Nicht um Zeit und Raum handelt es sich, sondern um Nach-
und Nebeneinander sinnlicher Erfahrung, und wir müßten hierin dem Materialismus beistimmen, wenn er eben nicht
törichterweise die Außenwelt für etwas Unabhängiges hielte, weil sie der Menschenvorstellung ein Nach-
und Nebeneinander scheinbar aufzwingt, was doch selbst wieder nur subjektiver Eigentümlichkeit unserer Vorstellung
entspringt. Weder gesonderte Ideen noch Erscheinungsbilder sind apriorisch, wohl aber jener unfaßliche
Empfindungskomplex, den wir Lebenspsyche taufen wollen. »Das Leben richtet sich ein«, weiter kann man von Innen-
und Außenwelt nichts sagen.
Veraltete aristotelische Kategorientafeln ergänzte Kant, mußte freilich seinen selbstbevormundenden
kategorischen Imperativ 1792 durch »angeborenen Hang zum radikal Bösen« korrigieren. Doch ist im Grunde
gleichgültig, nach welchen Modalitäten unser Urteil verläuft, ob es nur Sinneserscheinungen oder Dinge an sich
sehen kann, wichtig allein die Tatsache, daß das Lebensprinzip in sich selber Empfindungen auslöst, wie
Kausalität, Zeit, Raum, Willensfreiheit. Diese tragen streng empirischen Charakter, sintemal sie alle aus der
Grundempfindung Bewegung hervorgehen, welche das Leben selber ist. Deshalb hat auch Streit über Willensfreiheit wenig
Sinn, sobald man erkennt, daß diese Täuschung zum Leben selbst gehört, das doch sicher apriorisch und keine
Täuschung, vielmehr das einzig Gewisse ist. Deshalb kann man dem »gesunden Menschenverstand« den
Determinismus nie begreiflich machen und die praktische Vernunft des Deterministen kümmert sich im Leben nie um seine
theoretische Überzeugung. Die Täuschung liegt also nicht in der Erscheinungswelt, sondern in uns selber, d. h. das
Leben fordert Täuschung. Natürlich sieht der Materialismus nicht den Widersinn: Ist Natur absolute Realität,
dann müßten auch Wollen und Erkennen der Lebewesen als Teil dieser Realität das Wahre und Reale sein.
Nur naives Denken kann aber glauben, daß ein von der Materie determiniertes Denken je objektive Wahrheit erlangen
kann. Determinismus und »freie« Forschung vertragen sich nicht, weshalb Wissenschaft immer nur das findet, was
ihre determinierte Geistesrichtung finden will. Daß Raumvorstellung durch Sehen und Tasten entsteht, hebt nicht auf,
daß eben ein Apparat von vornherein da sein muß, um Sehen und Tasten zu solchen Schlüssen zu führen.
Wir kommen also zu intellektuellem Monismus, daß Erkenntnisvermögen und Erkennen in eins zusammenfällt,
welches wunderbare Rätsel nur durch apriorische Lebenspsyche erklärt wird. Herrschaft der Erscheinung über
unsere Sinne wird aufgewogen durch Herrschaft geistiger Orientierung über die Erscheinung. Wahrnehmung ist schon
intellektuell, das Empfundene wird gleichzeitig beurteilt und hierdurch wahrgenommen. Kants verzwickter Ausdruck
»transzendentaler Gegenstand«, der all unseren Vorstellungen zugrunde liege, meint offenbar nichts hinter der
Erscheinung, sondern in uns selbst, nach dem sich unsere Erfahrungswelt zu richten hat. Erkennten wir laut Schopenhauer nur
durch Kausalitätsschluß, so könnten wir, wie auch Helmholtz zugibt, keinerlei Wirklichkeit begreifen, denn
Ursache und Wirkung sind keine Dinge, sondern Erscheinungen von Erscheinungen. Um es klar zu unterstreichen: so wie 1000
Eindrücke noch keine sondernde Wahrnehmung, so sind 1000 Wahrnehmungen noch keine Erfahrung, erst ihre Verarbeitung
durch den Verstand macht sie dazu. Was ist Verstand? Sammlung synthetischer Werturteile, die individuell zustande kommen
für ein dem Ich zuträgliches relatives Weltbild. Daß der Körper selber sich ein Hirnorgan beilegt,
für das er, der Körper, selber zum Objekt der Wahrnehmung wird wie etwas Fremdes, wirkt geradezu mystisch, um das
dem Materialisten verhaßteste Wort zu gebrauchen. Schon J. Müller
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