Der Aufgang Des Abendlandes
Wahrscheinlichkeitsgrad erfahrungsmäßiger Naturgesetze
zu erhöhen. Das wäre alles schön und gut, doch diese wohlangebrachte Bescheidenheit wird nie ehrlich
angewendet, denn es ist mindestens übertrieben und gewagt, daß Wissenschaft heute ihre Gesetze »immer
wahrscheinlicher« machte außer für Strohköpfe. Sie bewegt sich von Anbeginn wie jede anthropomorphische
Religion in einseitiger Voraussetzung, es werde ihr irgendwas Sichtbares induktiv offenbart, während sie gleichzeitig
deduktiv mit unsichtbaren Abstraktionen spielt. Leben, diese höchste Formel, hat weit mehr Sinn als die Abstraktion
Materie, sie demonstriert drastisch und symbolisch das wahre Geheimnis des Weltgeschehens darin, daß man alle
organischen Existenzen neben uns nur als Körper erkennt, nichts von ihrem wahren, d. h. psychischen Wesen. Wenn man X
als einen mit Beruf, Einkommen, Titel behangenen Körper schätzt, bleibt man völlig im unklaren über das,
was er fühlt, glaubt, denkt, d. h. wirklich ist, da helfen höchstens Analogieschlüsse, die wahr oder falsch
sein können. Selbst die wenigen, die sichtbare Merkmale ihres Innenlebens zur Schau tragen und als Künstler oder
Denker von sich geben, gelten oft als problematische Naturen, enthüllen keineswegs Ursprung und Modus ihrer geistigen
Bewegung. Physiognomik hat nur den Wert einer Eselsbrücke; gewiß trägt jeder seinen Steckbrief im Gesicht,
doch nur wenige verstehen zu lesen; dies leibliche Schriftstück bleibt so unvollständig wie Objekte der
Graphologie, die sich hundertmal blamiert neben manchen Treffern. In W. Blos »Gesch. D. Revol.« findet man ein
Bild Robespierres voll Feinheit und Idealität: Es widerspricht gänzlich dem Bild, das Zeitgenossen von ihm
entwarfen. Eine Rohan zeigte uns mal einen Kupferstich von Cagliostro, der sehr begreiflich macht, warum Lavater ihm die
»erhabenste Physiognomie« zusprach, auf andern Bildern scheint er ein feister frecher Kerl. Wie stellt man sich
zu solchen Widersprüchen? Man gewöhnte sich, Schädel und Stirn als Merkzeichen des Intellekts anzusehen, meist
trifft es zu, keineswegs immer, es gibt Leute mit hohen und breiten Stirnen, deren Geistesmaß nicht den Durchschnitt
übersteigt, Leute mit gedrückten Stirnen, die große Intelligenz besitzen. Unberechtigt ist bloße
Messung des Schädelumfangs, Byron hatte einen abnorm kleinen Kopf, der aber doppeltes Hirngewicht trug, Leibniz hingegen
ein minimales Volumen bei so unbestrittener Größe des Intellekts. Auch Hirnwindungen geben keinen Maßstab,
alles hängt ab vom Blut, das die Hirnmasse speist, also von etwas gänzlich Unsichtbarem, das sich der
Sezierungsobduktion entzieht. Bismarcks Schädel und Gesicht verraten nichts als harte Energie und starke Klugheit und
doch war er sicher ungewöhnlich. Porträts vieler Genies erster Ordnung entsprechen nicht so abnorm großer
Geistesstellung. Will man ehrlich sein, so sind in Friedrichs d. Gr. spitzigem Gesicht nur die Augen Genieblitzer, Napoleons
Physiognomie wird von verschiedenen Beurteilern verschieden aufgefaßt, ein englischer Elbabesucher fand seinen Ausdruck
»dumm«, erst bei lebhaftem Gespräch habe er sich geistreich belebt. Ganz recht, nur beim Mienenspiel darf
man das Antlitz eines Genialen beurteilen, d. h. unterm Einfluß unsichtbarer Bewegung. Söhne erben den Geist der
Mütter, diese müßten aber ziemliche Idiotinnen sein nach ihren schmalen niedern Stirnen zu schließen,
während sie oft tieferer Intuition und Idealität fähig als die Männer und an Lebensklugheit ihnen meist
voranstehen. Das geringe Volumen des weiblichen Schädels bestätigt selten den Männerverdacht »lange
Haare kurzer Verstand«, denn was in der weiblichen Psyche vorgeht, bleibt dem Mann verschlossen. Kurz und gut, das
Lebensprinzip, das nicht die es leugnenden Gelehrten um Erlaubnis fragt, hat alles Wesentliche des Menschen ins Unsichtbare
verlegt, und wenn Gedankenlesung, Gedankenübertragung, Hypnose hier walten, so geschieht es auf unsichtbaren Wegen, die
von Erfahrung und Vergleichung des Sichtbaren fern abliegen. Was also beobachtet die Wissenschaft? Just die Haut der Dinge!
–
Schon die Ägypter kannten Entwickeln des Frosches aus der Kaulquappe, des Käfers aus dem Ei, der Schmeisfliege
aus der Larve, ihre Astronomie und Geometrie 52+000 Jahre vor Alexander übertraf die Arithmetik der Chaldäer. Doch
daß diese erst 3700 v. Chr. den sodiakalen Tierkreis berechneten, ist offenbar falsch,
Weitere Kostenlose Bücher