Der Aufgang Des Abendlandes
sich allein mehr Futter beansprucht! Die tapfere Ellen brandmarkt sogenannte Pflichterfüllung im
bürgerlichen und Staatsleben, doch »Freiheit« und »Pazifismus« sind geradeso verdächtige
Masken. Hohe Seelen sind nur sich selbst verantwortlich, Beethovens Satz: »Echte Kunst ist eigensinnig«,
bedeutet, daß Kunst ihren eigenen Sinn hat. Ist »der Mensch selbst ein Teil des Schicksals« (Emerson), so
denke man daran, daß ein Tiger weniger schadet als eine Horde weißer Ameisen (Multatuli) oder Doggenhunde
(Kipling), Napoleon harmlos dasteht neben unzähligen kleinen Verbrechern des Alltagslebens. »Da unsere eigene
Autorität unsere Handlungen entscheidet, können nur wir selbst sie richtig beurteilen«, sagt die Key brav,
doch solche Selbstherrlichkeit schließt jeden Ausgleich zwischen Individualismus und Sozialismus aus. Heidentümer
unterscheiden sich nur in der Formsprache, kein »drittes Reich« des Joachim von Florio kann die ewigen zwei
Reiche des Geist- und Sinnenmenschen verschmelzen. Auch die schwächste Psyche hat Tiefen, die sie selbst nicht kennt,
doch wenn der Massenmensch immer vor der Weltlüge kapituliert, so murre er nicht über Selbstbestrafung seiner
Halbheit. Der Graphologe Langenbruch spottet in seinem Handschriftenbuch, daß die Deutschen sich kritisch dünken
und doch kritiklosen Autoritätsrespekt vor Titeln und Orden behalten. Womit soll aber eine Null sich sonst einen
Einerzähler beschaffen? Persönlichkeiten lassen sich nicht züchten, und eine als Pazifistin herumkutschierende
und das Leben bemutternde Damenseele naht sich nie dem Abgrund, wo der gefesselte Prometheus auf keinen sozialen Herkules und
Hiobs »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« auf nichts Irdisches wartet. Und
»Schönheit«? Im Warenumtausch geistiger Güter kann kein krampfhafter Massenaufstand der Talente den
durchlöcherten Eappen der alten Ästhetik flicken. Balzacs »Prolegomena der eleganten Welt« nennt die
Gesellschaft Versicherung der Reichen gegen die Armen, jawohl, sie weiß am besten, womit sie ihre Räder schmiert.
Steigt mal ein Genialer in die Tagesarena, so scheint das ungesetzlicher Raid über ein Grenzgebiet, Einbruch in
verbrieftes Besitzrecht der Ungeistigkeit.
Doch der Rest ist nicht Schweigen, sondern ewig tönende Ordnung, denn nur Vermenschlichung Gottes beraubt ihn seiner
natürlichsten Eigenschaft haarscharfer Gerechtigkeit: nur wer diese nicht brauchen kann, wünscht von ihm
Affenliebe, himmlische Buchführung fälschend. Alle Natur ist – natürlich. Ossendowski meint, im
Ussuriland, wo Tropisches und Arktisches durcheinandertaumeln, mache die Natur »einen dummen Witz«, sie setzt
aber nur die Idee einer vermittelnden Wetterscheide in Form um. Der nämliche Lebenserfahrene sagt: »Das Leben
verknüpft Menschenschicksale auf sonderbare Weise, Endergebnis von Zufälligkeiten mutet oft sehr geheimnisvoll
an.« Zufälligkeiten? Nur unsere trüben Augen sehen nicht den Blitz der Planmäßigkeit. Wer aus
schaukelnder Hängematte unsanft herunterpurzelt, dessen Klage auf Schadenersatz lehnt der Weltgerichtshof ab: Stellt
eure Forderung billiger! »Blessings in disguise« nennt man englisch Unfälle, die sich nachher als heilsamer
Erziehungswert erweisen. Die Natur selbst sagt dem Materialismus ab, geniale Magen gibt's nur bei Rabelais, Gram vergiftet
tödlicher als Arterie-Bluthunde der Eiweißüberfütterung. Wer »Hygiene des Geschlechtslebens«
(Gruber) als Siamesischen Zwilling mit kühler Erotik verkuppelt, dem ist das ewige Weh und Ach aus keinem Punkte zu
kurieren. »Minne« als Doppelsinn von »Liebe« und »Gedächtnis« schwand aus der
Sprache, weil Treufähigkeit erlosch. Nichts Psychisches hat physische Basis. Aus gleicher Globetrotterei schöpft
der gesunde Weltmann Loti Pessimismus, der schwindsüchtige Stevenson Optimismus, Samuel Johnson schimpfte bei sechzehn
Tassen Tee genau wie beim gewohnten Grog, Falstaff und Hamlet sind beide »fett«. Maupassant spottet: »Ein
Porträt zeigt nicht unser Skelett«, doch er selbst trug bald sein Skelett-im-Haus zur Schau, der
»Horla« packte ihn am Kragen, die gewollte Allsinnlichkeit strafte sich im Übersinnlichen. Überall
gerechte Immanenz: wer sich in Gefahr des Sinnlichen begibt, kommt drin um.
Lafarge »Höheres lieben in Kunst« belegt Mißtrauen und Mißgunst der Kunstakademien gegen
alles Lebensfähige (vgl. Shaws Vorrede zu »Frau Warrens Beruf«). Bolschewismus bescheinigt nur in
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