Der Aufgang Des Abendlandes
Allfürsorge erstreckt sich
gerade in Notwendigkeitswelt. Da jede Maschine ab- und ausläuft, so könnten Störungen der Planetenordnung nie
vermieden werden ohne höhere Eingriffe, Unregelmäßigkeit kann auf Erden so wenig walten wie am
Sterngewölbe, nichts kann allem Geschehen immanent sein als lautere Gerechtigkeit. Doch wenn wir das Leben als
Karmamanifestierung verehren und ihm das Heroische entgegensetzen, so schmeckt dies nicht nach Schlagsahne und
Süßholzraspelei liebestrunkener Weltschönheitfreude des großen Lyrikers Tagore. Sein Interpret
Engelhardt (1922) täuscht nicht über denkerische Unbestimmtheit solcher Verinnerlichung, die vor Übel und Leid
als nur episodisch die Augen schließt und doch Buddha als Bundesbruder anzurufen wagt, während er es über
sich gewinnt, in nietzscheanischer Lebensrhapsodie zu schwelgen. Was nur für Indien Möglichkeit hat, predigt er als
eitel gefeierter Gast im abendländischen Staatsgefängnis mit törichter Unterstellung, daß jeder voll
gleicher »göttlicher« Kräfte stecke und sich nach Gottliebe sehne. Doch »die Menschen sind nicht
gut«, klagt der gütige Philanthrop Fénelon, Brunos heroische All-Liebe verachtet sowohl wehleidige wie
wonnige Sentimentalität.
Ein hoher Herr nannte sich treuherzig »überzeugter Optimist«, er meinte »verwöhnter
Egoist«. Von so verächtlicher Gemütlosigkeit bekehrt uns schon das Leiden harmloser Tiere. Wem eine treue
Mieze aus Kummer starb, eine andre im Kindbett an tückischer Seuche, eine dritte wochenlang um ihr Kindchen klagen
hörte, das qualvoll verendete, der hatte gerade genug, und fragt, warum die lieben Geschöpfe erst nach so
zwecklosem Schmerz in die Astralebene zurückkehren dürfen. Doch vielleicht ist auch dies karmisch begründet,
und wir ahnen wie in der Geschichte so auch im Privatleben immanente Gerechtigkeit, sobald wir uns von kleinlichen
Menschenbegriffen losmachen, die immer Glück und Unglück nur materiell werten. Eine von sich selbst zehrende
Vernunft kredenzt als Marketenderin »zwischen den Schlachten« allerlei Begriffsschnäpse mit der
Flaschenetikette: Patentiert, Achtung, zerbrechlich! Nur ab und zu sprudelt natürliches Mineralwasser. So im
»Phädon« Mendelsohns: plötzliches Absterben (»Untergang des Abendlands«) widerspreche der
Natur, deren Umkleidungen nur Stetigkeit ohne jähes Abreißen zulassen. Ja, Goethe mutet ihr nicht zuviel zu:
»Natur muß mir ein neues Kleid geben«. Cherbury lehrte 1645, Bös und Gut würden schon im
Diesseits vergolten. Rochester verneinte es fürs Jenseits, weil ja mit Vernichtung des Hirns jedes Gedächtnis der
Diesseitstaten schwinde. Freigeisterei setzt eben alles Mögliche voraus, während sie gegen theologische
Voraussetzungen ficht. Auslöschen der Erinnerung im Tode wäre unnatürlich – falls man nicht
überhaupt Vernichtung voraussetzt –, erst Wiedergeburt vertreibt sie, wo sie als Karmabestandteil ins
Unbewußte versinkt. Da aber Dies- und Jenseits kausal zusammenhängen, so dürfte man fragen: Wenn nicht im
Diesseits, warum im Jenseits, haben nicht beide Systeme das gleiche Leitmotiv? Nun, vorurteilsvolle Betrachtung für uns
geistig ungeordneter Stoffmassen berührt nicht die zahllosen individuellen Bewußtseinsstände, alles innere
Leben bleibt ein unbekanntes Y, selbst wenn es sich mechanisch abrollte. Daß die Weltordnung nicht aufdringlich Moral
einpaukt und äußerlich oft das Böse zeitlichen Sieg hat, beeinträchtigt noch lange nicht angemessenes
Ausleben der Persönlichkeit, dies höchste Glück der Erdenkinder. Addison, der glattgebürstete
Staatssekretär der Moral, die er wie heimisches Mehl und Laster als unerlaubten Einfuhrartikel überwachte,
verschied: »Seht, wie ein Christ stirbt!« Das rührt uns nicht, wir denken an Swifts schauriges Ende, der
kein glückverwöhnter nobler Gentleman, sondern ein von Bosheit Tollwütiger war, dem dauernde Verbitterung jede
Milch in Drachengift verwandelte mit der Leiderfahrung: »Ein Genie erkennt man daran, daß alle Toren sich dagegen
verbünden.« Doch ohne sein wildes Dunkel von Grimm und Leidenschaft wären die Blitze seiner Weltsatire nie
emporgezuckt, er wäre ein gemeiner Streber geworden, ohne seine Bestimmung zu erfüllen. Solch Manko als
Selbstwiderspruch hätte ihn zehnmal unglücklicher gemacht, seine Größe war so gerechte Vergeltung wie
sein zerrissener Lebenslauf, der im Grunde doch auch seiner Überhebung schmeichelte.
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