Der Aufgang Des Abendlandes
vorausbestimmt, nicht aber Herr ist über tausend Zufälle der Materiereibung. Doch sind
scheinbare Zufälle nicht gesetzmäßig? Da gilt z. B. das von ihm nirgends beachtete Reaktionsgesetz. Die
Dominante, wie wir es nennen wollen, einer Epoche, z. B. der Rationalismus des 18. Jahrhunderts, hat die lasterhafte Neigung,
ein ganzes Milieu einseitig zu erdrücken, doch als er seinen Gipfel fand, klappte er ganz von selber in Romantik um, d.
h. Belebung vertrockneter Verstandesbildung, Selbstheilkräfte im physischen Organismus wiederholen sich also im
psychischen, Rückschläge erhalten das Gleichgewicht. So kann man heute bei Zertrümmerung mechanistischer
Genügsamkeit einen Rückschlag des Metaphysischen erwarten, das magischen und faustischen Drang in sich vereint mit
neuem Kräftezuwachs für angeblich sterbende faustische Kultur. Dies sieht aber alles eher als danach aus, daß
Menschheitsschicksale Zufälligkeiten untertan seien. Spenglers Geschichtstafeln sind im einzelnen unsicher und oft
unmöglich, so verlockend es scheint, bestimmte Grundlinien festzulegen. Man hat schon einst in einem Essay Gesetze der
Weltliteratur aufstellen wollen, doch mancherlei bestehende Analogien lassen sich dabei wieder nicht mit auffälligen
Verschiedenheiten verknüpfen. So scheint auch gewaltsam lächerlich, daß französische und englische
Geschichte um 100 bis 200 Jahre der deutschen voraus sein sollen, Bismarck als Zeitgenosse Richelieus und Cromwells
hätte doch wesentlich andere Aufgaben, Goethe entsprang nicht Shakespeares Renaissancemilieu. Entstehen eines Cäsar
und Alexander mag man vorausahnen, doch nicht voraus berechnen, wann sie Rubikon und Hellespont überschreiten. Kepler
las Wallensteins Tod in den Sternen, doch keineswegs die Begleitumstände. Der entscheidende »Zufall« war
immer, ob Genies geboren werden, doch wie kann man sie Zufälle nennen, da sie doch selber sich als Schicksal
fühlen! [Fußnote]Daß nicht Konstanz geistiger Formen, sondern deren Verschiedenheit das Tiefste
erschließen, würden wir Spengler (S. 84–88) zugeben, wenn er nicht als deren Ursache organische
Periodizität annähme statt davon unabhängiges Erstehen großer Einzelpsychen. Der
»Weltschmerz« wurde nur periodisch, weil ausgerechnet ein Lord im wenigst weltschmerzlichen England ihm Worte
lieh.
So ist auch Ethik nie zufallmäßig. Sobald das Leben ihm die Spielsachen abstrakter Ethikbegriffe zerschlagen
vor die Füße wirft, windet sich der kirchliche wie der rationalistische Moralist in Verzicht und Verzweiflung. Der
wahre Idealist steht dem Leben und seinem Anprall, weil er moralisches Übel als jenseits irdischer Remedur betrachtet
und sich nicht einbildet, wechselnde Notwendigkeiten von Gut und Böse in gleiches Schmetterlingsnetz ethischer Regel
einzufangen. Der sozusagen mit Dramaturgie in der Hand geborene Lessing wußte dem Lebensdrama nur den bittern Schutz
des Stoizismus zu entnehmen. Wer aber geheimnisvolle Beziehung von Personen und Dingen in jedem Einzelleben betrachtet, der
verkennt weder seltsam genaue Gerechtigkeit, noch leugnet er Gut und Böse an sich, erhebt sie nur ins Reich notwendiger
Impulse, wo unter Umständen ein Verbrechen sittlicher sein kann als laue Biederkeit. Die ziemlich abstruse Abhandlung
Spenglers über morphologisch in jeder Kultur verschiedene Moral dürfte wohl auf obige Sätze hinauslaufen, wie
denn mehrfach eine gewisse innere Übereinstimmung mit unsern Ansichten überrascht, doch ließe sich noch
vieles dazu erinnern, man kann unmöglich eine dunkle Unklarheit im Spengler-Orakel verkennen. Seiner anthroposophischen
Nörgelei stellen wir klar gegenüber nur Schicksalsordnung in Zeit und Raum. Zu behaupten, des Abendlands
Afterkultur habe nun für immer tiefere Quellen der Höhergesittung verschüttet, heißt quirlenden Schaum
der Oberfläche mit unergründlichem Meer verwechseln, Schaum versprüht, die Welle rollt weiter um die Erde.
Unbeirrt von öder Zeitlichkeit geht der Psyche ewiges Leben seinen Gang, das Meer unsichtbarer Psychewelten flutet
ineinander ohne Ebbe. Ob jemand unter Sesostris oder den Majestäten Wilhelm, Lloyd George, Poincaré
»blühte«, ist ohne Belang für sein wahres Wesen, die Psyche der Kultur kennt nicht Welken, Altern,
Sterben, denn sie setzt sich zusammen aus Myriaden immer neuinkarnierter Psychen. Vielleicht trug schon ein Neanderthaler den
Shakespeare in sich, der später zum Vorschein kam durch
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