Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Aufgang Des Abendlandes

Titel: Der Aufgang Des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
Vom Netzwerk:
in einen Menschen verwandeln und durch
dessen Blut die gesamte Erbsünde abwaschen könne – der atheistische Pfarrer Roß-Saladin schoß mit
schweren Kanonen gegen solche Spatzen des Aberglaubens –, verzerrt nur eine tiefe Symbolistik, deren letzter Grund sich
menschlichem Begriffsvermögen verhüllt. Denn wie könnten wir begreifen, warum die unendliche
Schöpferkraft zum Schaffen, d.+h. Materialisieren gezwungen ist, in ihren Selbst-Werken sich aber unter das Karma der
Notwendigkeit beugen, daher den Sündenfall an sich selber vollstrecken, in den Geschöpfen mitleiden muß? Gott
stirbt und wird wiedergeboren in jeder Kreatur, kreuzigt sich selbst und tilgt die Erbschuld seiner Lebensgebilde in eigener
Erlebung. Daß man Priester und Opfer zugleich sein könne, scheint ekstatischem Fühlen so wenig fremd,
daß Orpheus- und Bacchuskult es voraussetzten. Einerseits erweist sich so der Christenmythos als bloße
Fortführung uralter Vorstellungen (Übertragung des Isaakopfers auf Übermenschliches), andererseits liegt ihm
gerade deshalb unheimliche Wahrheitsahnung zugrunde.
    Wir schätzen zwar Mark Twain nur als literarischen Rooseveld, doch seine Hinterwäldlerhumore verulken in
»Stomfields Himmelfahrt« nicht übel des Christenhimmels Unzulänglichkeit, holen aus dem Himmel den
Gedanken: irdisch Unerfülltes geht jenseits in Erfüllung. Ein Schneider wird als Ebenbürtiger Shakespeares
empfangen, weü er etwas Dichterisches in sich als verhöhnter Verkannter nicht zum Vorschein bringen durfte, jetzt
darf er dichten nach Herzenslust. In so paradoxer Übertreibung wird die Einheit aller geistiger Bewegung
veranschaulicht.
    Laut Poincaré trachtet alle Wissenschaft nach Einheit. Dann ist müßige Spielerei, Eigenschaften eines
unbekannten Agens getrennt untersuchen zu wollen. Eis, Wasser, Dampf oder Licht, Wärme, Elektrizität sind nur
jeweüige Formen des Gleichen. Richtig verstanden, hat freilich ein letzter zureichender Grund so wenig wie Zeit, Raum,
Ursache, Wirkung in der Gottwelt Platz. Sie ist, das ist ihr einziger Inbegriff, »Naturgesetze« erscheinen nur
als gleichmäßiges Ein- und Ausatmen des göttlichen Odems, unveränderlich, unverbindlich für Zwecke!
Nun ist aber Kausalität nicht nur ein Vernunftregulativ, ohne das wir nicht denken könnten, sondern empirisch
beweisbar innerhalb aller Materie, auch als Determiniertheit im Menschen- und Völkerleben, wobei sogar Vorbestimmung
alles Psychischen unumstößlich erscheint. Ichvernunft kann nichts innerlich anschauen, was nicht irgendwie im
Weltganzen steckt, ihre Ideen entstehen in Wechselwirkung aus einer transzendenten Ursache, die sich ihnen anschmiegt und auf
welche sich die menschlichen Vorstellungen Kausalität und Zweckmäßigkeit übertragen. So wird Gott,
selber allem Kausalen entrückt, Leiter einer zielsetzenden Kausalität, die sich, obschon nur ein menschlicher
Vernunftbegriff, offenkundig im Weltbild gestaltet, nicht nur im Sichtbaren der Begebnisse, sondern auch im Unsichtbaren der
Transzendentalevolution. Für Menschenerkenntnis gibt es nur einen Gott der Kausalität, der sich
herabläßt, unserem Verständnis entgegen zu kommen und als »Vorsehung« eine moralische Ordnung mit
Gut und Böse, Lohn und Strafe im Erdenleben zu veranschaulichen. Solche an sich naive Anschauung zur Würde einer
transzendenten Wahrheit erhoben zu haben, bei welcher Vergeltung, alles beschränkt menschliche Urteil abstreifend, als
einfache Kausalfolge erscheint, dies leistet eben das Indische Karmagesetz. Die Unfreiheit alles irdischen Willens erniedrigt
hier nicht zum blinden Sklaven der Materie, denn das unentrinnbare »Karma«, die jedem Ich anhaftende Urschuld
(Erbsünde) stellt in steten Wiedergeburten das Ich so lange auf die Probe, bis zunehmende Erfahrung ihm das Tor zur
transzendentalen Freiheit öffnet.
    Dagegen ist Freiheit des kategorischen Imperativs als sittliche Autonomie allgemeiner Menschenvernunft ein
zauberkünstlerisches Taschenspiel Kants. »Persönlichkeit ist die Freiheit vom Mechanismus der ganzen
Natur«? Man kann also aus seiner werten Haut springen? »Die Wirklichkeit der (sittlichen) Freiheit beweist die
Möglichkeit Gottes«? Die Gottesidee habe nur deshalb »die größte praktische Realität«,
weil der angeblich selbstbestimmte Wille der freien Vernunft eine Ethik vorschreibt, die sich am praktischsten auf Gott
beruft? Bei diesem Saltomortale macht Kant den weiteren Sprung: Die Ethik

Weitere Kostenlose Bücher