Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
‹Unter›- und ‹Oberschichten› oder vom sozialen ‹Auf›- und ‹Abstieg›.
Mit diesen Überlegungen zum sozialen Raum haben wir die Ebene der Wahrnehmung verlassen und sind auf die Ebene eines anderen, abstrakteren Typus der Realitätserschließung übergegangen. Der soziale Raum ist den Sinnen ja nur sehr partiell zugänglich; das Bild, das wir uns von ihm machen, ist zu großen Teilen gedanklich gewonnen. Aber eben nicht als eine Konstruktion apriori, sondern als eine sich zumindest teilweise an der Struktur und Wertigkeit unseres Körpers orientierende Vergegenwärtigung. Unserer Erkenntnis der sozialen Welt wohnt offenbar ein projektives Element inne. Medium dieser Projektion sind vor allem Metaphern: Sie fungieren als Vehikel, mit denen das ‹Bild› unseres Körpers auf die soziale Realität übertragen wird und auch umgekehrt unser ‹Bild› der sozialen Realität auf den Körper. [31] Es muss hier offenbleiben, inwieweit diese Befunde auch für die theoretische Erkenntnis natürlicher Phänomene gelten. In jedem Fall ist die generelle epistemische Bedeutung von Metaphern kaum zu überschätzen; und Metaphern sind nicht auf bloße Darstellungsmittel reduzierbar. Sie fungieren nicht als literarische Kunst am Gedankenbau, sondern haben eine die Denkinhalte beeinflussende Tragweite. Mit ihrer Hilfe werden typischerweise Zusammenhänge zwischen verschiedenen Wirklichkeitsbereichen hergestellt: Ein sinnlich nicht unmittelbar zugänglicher Bereich (zum Beispiel der soziale Raum) wird nach dem Muster eines vertrauten, sinnlich anschaulichen Bereiches konzeptualisiert. Der menschliche Körper und seine Struktur bieten sich als ein solcher vertrauter Wirklichkeitsbereich an, den wir als Muster nehmen, mit dessen Hilfe wir ein unanschauliches Gegenstandsfeld gedanklich erschließen können. In diesem Sinne strukturieren Metaphern unser Denken, anstatt es bloß zum Ausdruck zu bringen; sie schaffen Assoziationsfelder und eröffnen Argumentationsmöglichkeiten. Sie sind also nicht bloß Darstellungs-, sondern auch Denkmittel. Diese Funktion ist nicht auf die schöne Literatur oder auf die Alltagsformen des Denkens beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf wissenschaftliche Theorien.
Diese epistemische Funktion von Metaphern allgemein, die Metaphorik des aufrechten Ganges eingeschlossen, zeigt sich auch dort, wo es um unsere innere Welt geht. Wir suchen ja nicht nur die äußere Welt zu erkennen, sondern auch Empfindungen und Überzeugungen, die wir selbst oder unsere Mitmenschen haben. Es ist nun auffällig, dass die Opposition von oben und unten hier eine wichtige Rolle spielt und dass sie auch in Bezug auf diese innere Welt mit demselben Wertungsgradienten einhergeht. Wenn wir glücklich sind, fühlen wir uns ‹obenauf›; wenn nicht, sind wir ‹deprimiert›, also niedergedrückt. Eine positive Entwicklung führt nach ‹oben›, vielleicht sogar an die ‹Spitze›; eine negative demgegenüber ‹bergab› in Richtung ‹Tiefpunkt›. Es gibt eine Fülle von Beispielen für den metaphorischen und evaluativen Gebrauch der Differenz von ‹oben› und ‹unten›; und diese Metaphorik ist nicht auf bestimmte Sprachen beschränkt, sondern für viele Sprachen charakteristisch. Da es keine sachliche Verbindung zwischen guter Laune oder Tugend mit einer Lokalisation ‹oben› im Raum gibt, liegt angesichts der Universalität dieser Metaphorik die Vermutung nahe, dass sie zumindest eine ihrer Wurzeln im aufrechten Gang hat. [32] – Ähnlich verhält es sich überall dort, wo das Adjektiv ‹aufrecht› als gleichbedeutend mit den Adjektiven ‹recht›, ‹rechts›, ‹richtig›, ‹aufrichtig› oder ‹gerecht› gebraucht wird. In den europäischen Hauptsprachen besteht ein semantischer Zusammenhang zwischen der räumlichen Stellung und der moralischen Bewertung. Cicero ( De fin. V,71) kann daher von Menschen sprechen, die «ihr Leben in Hochherzigkeit und aufrechter Gesinnung führen (homines magno animo erectoque viventes)». Das Aufgerichtetsein gilt hier offensichtlich als Modell für die moralisch richtige Art des Lebens und Handelns. Besonders beliebt ist diese Metaphorik, wenn die richtige Art zu leben und zu handeln mit Schwierigkeiten konfrontiert ist. Wer auch unter solchen Bedingungen nicht ‹einknickt›, ist ein ‹aufrechter› Demokrat, Christ, Sozialist etc. Dieselbe semantische Verbindung zwischen der vertikalen Raumdimension und der moralischen Wertskala lässt sich in zumindest
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