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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Gestalt ähnlicher Körper, eine Statue beispielsweise, ohne zusätzliche Sicherung schon bei kleinen Einwirkungen umstürzen würde. Und wir erfahren weiter, dass dem drohenden Sturz aktiv vorgebeugt werden muss; dass die aufrechte Haltung also eine Arbeit ist. – Das alles wird in einem betont nüchternen Duktus vorgetragen und leuchtet unmittelbar ein. Doch warum finden wir bei Platon und Aristoteles, bei Augustinus und Thomas nichts von alledem? Sollte ihnen entgangen sein, wie schmal die Basis ist, auf der wir stehen und gehen? Sollte ihnen das permanente Sturzrisiko verborgen geblieben sein? Das ist schwer vorstellbar. Warum aber haben sie das allzu Offensichtliche nicht zum Thema gemacht?
    Es liegt auf der Hand, dass dies mit dem Denkrahmen zu tun hat, in dem sich ihre Theorien bewegten; und dass dieser Denkrahmen sich grundlegend verändert haben musste, damit eine Beschreibung wie die zitierte möglich wurde. Tatsächlich stammt diese Beschreibung aus einer deutlich späteren Zeit. Sie ist dem 1802 veröffentlichten Buch Natural Theology (1 72f.) des anglikanischen Geistlichen William Paley entnommen. [1] In der Tradition der Physikotheologie stehend, ging es Paley um den Nachweis, dass hinter den empirischen Naturphänomenen allenthalben das weise Planen und Handeln Gottes ausgemacht werden kann. Das sollte natürlich auch für den aufrechten Gang gelten. Wir haben deshalb keinen Grund zu der Annahme, dass Paley es auch nur entfernt auf die Entwertung oder Entzauberung der menschlichen Körperhaltung abgesehen haben könnte. Umso bemerkenswerter ist die Nüchternheit, mit der er sie betrachtet und analysiert, wenn nicht ‹seziert›; und das grelle Licht, in das ihre Risiken plötzlich getaucht werden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hieß ‹aufrecht stehen› und ‹aufrecht gehen› offenbar etwas anderes, als es in den Zeiten des (para)klassischen Denkens der Fall gewesen war.
    Oder sollte Paleys Labilitätsdiagnose idiosynkratisch gewesen sein? Die folgende, ein gutes Jahrhundert später entstandene und einer ganz anderen Textsorte zuzurechnende Beschreibung deutet darauf hin, dass Paleys Diagnose nicht die fixe Idee eines Außenseiters war. Sie stammt aus William Faulkners 1932 erschienenen Roman Licht im August und beschreibt einen Mann, der am Sonntagabend am Fenster seines Studierzimmers sitzt und bemerkt, wie sich auf der Straße eine Person nähert. Der Mann beobachtet die Gestalt, «die sich mit der unsicheren, unechten Gewandtheit bewegt, mit der Tiere auf den Hinterbeinen balancieren; eine Gewandtheit, auf die das menschliche Tier so unsinnig stolz ist und die den Menschen doch fortwährend hereinlegt, mit Naturgesetzen wie dem der Schwerkraft, oder mit Glatteis, und mit lauter artfremden Gegenständen, die er sich selbst erfunden hat, wie Automobilen und Möbeln im Dunkeln, und dazu den auf Fußböden oder Gehwegen liegengebliebenen Abfällen von seinem eigenen Essen» (71). Es ist leicht erkennbar, dass auch in dieser Beschreibung die Unsicherheit des aufrechten Gangs hervorgehoben wird. Doch ebenso leicht ist erkennbar, dass Faulkners Beschreibung nicht arglos und ‹sachlich› ist. Durch die Erzählperspektive wird eine kinohafte Distanz zu dem beschriebenen Bewegungsvorgang erzeugt, den wir durch die Augen des Mannes hinter dem Fenster beobachten. Gleichzeitig wird dieser Vorgang scharf und bissig kommentiert: Er wird als «unsicher» charakterisiert und mit der «unechten Gewandtheit» dressierter Tiere verglichen. Der Mensch selbst wird zum Tier erklärt; zu einem Tier, das einen «unsinnigen» Stolz mit seiner unsicheren Fortbewegungsweise verbindet. Es kommt aber noch schlimmer! Denn Faulkner stellt den aufrechten Gang mit den anschließenden Formulierungen in eine Welt, die aufgrund von Schwerkraft oder Glatteis dieser Fortbewegungsweise feindlich ist. Und schließlich ist es dann der Mensch selbst, der mit Automobilen, Möbeln und Essensresten seinen eigenen Sturz befördert. – Sicher wollte Faulkner mit dieser kurzen, aber inhaltlich dichten Passage kein anthropologisches Statement abgeben. Dennoch scheint in ihr, ebenso wie in der Beschreibung Paleys, ein gewandeltes Verständnis des aufrechten Ganges durch; und auch des Menschen überhaupt.

15. Einbruch der Kontingenz
Der Vorzug, welchen die Poeten darinnen finden, daß wir aufrechts gehen, und im Himmel, unsern Ursprung schauen … ist ein wahrhaftig poetischer Vorzug. Es giebet verschiedene kleine Thiere, die vollkommen

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