Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Füßen oben, somit in entgegengesetzter und auch in schiefer Stellung. Denn für die Höllengeister ist das unten, was für die Himmelsgeister oben, und für die Höllengeister das oben, was für die Himmelsgeister unten ist.» (1784: 32f.) Man bemerke den feinen Ordnungssinn, der hier waltet und sich in einer Ungleichheit der Richtung bei einer Gleichheit der Haltung niederschlägt. Als Menschen haben die Höllengeister ein Recht auf die menschliche Körperform; als verkehrte Menschen aber ziehen sie sich eine Verkehrung dieser Form zu. – Natürlich ist die Glaubwürdigkeit der Augenzeugenberichte Swedenborgs schon zu seinen Lebzeiten auf Skepsis gestoßen. Ihrem Inhalt nach bestätigen sie aber lediglich die bereits im 6. Jahrhundert getroffenen Konzilsbeschlüsse über das Leben im Jenseits: Wir werden ewig aufrecht gehen.
Dritter Teil
Aufrecht kriechende Maschinen
E inem ehemals berühmten, heute aber vergessenen Autor verdanken wir die folgende, ein wenig pedantische, aber doch aufschlussreiche Beschreibung der aufrechten Haltung des Menschen: «Als Massen betrachtet, haben animalische Körper eine Eigenschaft, die seltsamer ist als meist bedacht wird; dies ist die Fähigkeit, zu stehen: und dies ist bemerkenswerter bei zweibeinigen Lebewesen als bei vierbeinigen und am allermeisten beim Menschen, da er das größte ist und auf der kleinsten Basis aufruht. Es ist mehr an der Sache, als wir uns bewusst sind. Lose auf ein Piedestal gestellt, würde die Statue eines Menschen keine halbe Stunde sicher stehen. Man muss ihre Füße mit Bolzen oder Kitt an der Unterlage befestigen; oder die erste Erschütterung, der erste Windstoß wird sie umstoßen. Und doch kann die Statue alle mechanischen Proportionen eines lebenden Modells zum Ausdruck bringen. Es genügt daher nicht die bloße Gestalt oder die Platzierung des Schwerpunktes innerhalb der Unterlage. Entweder ist das Gravitationsgesetz bei lebenden Körpern aufgehoben oder es ist mehr für sie zu tun, um sie zur Aufrechterhaltung ihrer Haltung zu befähigen. Es gibt aber nun keinen Grund zu bezweifeln, dass ihre Teile durch die Gravitation in derselben Weise abwärts gezogen werden, wie die Teile toter Materie. Die Gabe scheint mir daher in einer Fähigkeit zu bestehen, durch eine Reihe wirklich unbekannter, aber schneller Ausgleichshandlungen den Schwerpunkt ständig so zu verschieben, dass die Standlinie, d.h. die Senkrechte vom Körpermittelpunkt zum Boden, innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen bleibt. An diesen Handlungen zeigt sich erstens, was wir Stärke nennen. Der tote Körper fällt um. Die bloße Verteilung von Gewicht und Druck, die im Moment nach dem Tode dieselbe sein kann, wie im Moment vorher, kann daher allein die Säule nicht aufrecht halten. Auch in Fällen extremer Schwäche kann der Patient nicht aufrecht stehen. Zweitens, dass diese Handlungen nur in einem schwachen Maße willkürlich sind. Ein Mensch, der sich auf den Beinen hält, ist sich seiner willkürlichen Kräfte selten bewusst. Ein Kind, das laufen lernt, ist der größte Haltungskünstler der Welt; doch die Kunst, wenn sie so genannt werden kann, sinkt zur Gewohnheit hinab; und es ist bald in der Lage, sich in eine Vielzahl verschiedener Arten aufrecht zu halten, ohne dabei seiner Vorsicht und Anstrengung gewahr zu werden. Gleichwohl setzt dies alles eine Eignung der Körperteile voraus, aus der sich die Gewohnheit auf diese Weise entwickeln kann; eine vorgängige Bewegungsfähigkeit, die das Lebewesen auszuüben befähigt wurde: und die Fähigkeit, mit der diese Ausübung erworben wurde, bildet einen Gegenstand unserer Bewunderung.»
Die Passage überrascht mit ihrem ‹Realismus›. Sie nimmt die Rede von der aufrechten Haltung des Menschen auf eine unerwartete Weise wörtlich. Von dem, was wir in der antiken und christlichen Literatur über den Zeichencharakter der aufrechten Haltung erfahren haben, findet sich hier buchstäblich nichts. Die Rede ist weder von Analogien zur kosmischen Ordnung; noch von Verweisen auf die Überlegenheit des Menschen über alle anderen erschaffenen Wesen; und auch nicht von einer Mahnung zum Vernunftgebrauch oder zu innerer Rechtheit. Stattdessen kommen intrikate ‹technische› Schwierigkeiten zur Sprache, die im (para)klassischen Weltbild ausgespart geblieben waren. Aus einem Privileg ist plötzlich ein Problem geworden. Wir erfahren, dass die aufrechte Haltung eine eher labile Position ist; so labil, dass ein der menschlichen
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