Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Unveränderlichkeit, denn es behauptet die Ohnmacht, anders zu handeln.» (nach Flasch 1989: 153) [9] – Die These von der souveränen Willkür Gottes und der sich aus ihr ergebenden Kontingenz der Welt fand einen breiten und lang anhaltenden Widerhall. Für Nikolaus von Kues folgt der «ganze Irrtum» von Platon und Aristoteles aus der Annahme, «die Schöpfervernunft mache alles aus Naturnotwendigkeit». Dabei werde übersehen, dass es für die Werke Gottes keine Notwendigkeit und keinen Grund gebe: «warum der Himmel Himmel und die Erde Erde und der Mensch Mensch ist, dafür gibt es keinen Grund als den, dass der, der (sie) schuf, es so wollte». (De beryllo XXIV, XXX) Die christliche Welt ist ein Produkt göttlicher Willkür und ist sowohl ihrer Existenz, als ihrer Struktur nach kontingent. Die metaphysische Notwendigkeit, die dem Kosmos seine Existenz und seine Struktur gesichert hatte, schmilzt in der Sonne der göttlichen Allmacht.
Einen ausdrücklichen Hinweis auf Gottes Allmacht und Souveränität finden wir in Montaignes Schutzschrift: Gott hat die Gesetze der Welt für den Menschen gemacht, ohne sich selbst an sie zu binden; er hätte alles ganz anders schaffen können. Die antikosmologische Stoßrichtung dieser These wird schlagartig deutlich, wenn Montaigne sich zur Beglaubigung nicht auf theologische Quellen, sondern auf den Materialisten Lukrez beruft, der die Möglichkeit und die Notwendigkeit anderer Welten vertreten hatte. (204ff.; 212) In anderen Welten gelten andere Gesetze, sodass jede von ihnen kontingent ist. Noch größere Aufmerksamkeit widmet Montaigne einem empirischen Zeugnis der Kontingenz. Wir müssen nämlich gar nicht über andere Welten spekulieren, sondern stoßen schon in der von uns bewohnten Welt auf unendlich viel Verschiedenheit. Die damals noch neue und aufregende Entdeckung bislang unbekannter überseeischer Kontinente, deren Flora und Fauna von der unsrigen stark abweicht, bietet Montaigne Gelegenheit, auf seltsame Naturgebilde aller Art zu verweisen, die alle nur eines zeigen sollen: Nichts muss so sein, wie es ist und wie wir es kennen; alles könnte auch anders sein. Die ‹vielen Welten›, deren Existenz die antiken Materialisten gefordert hatten, sind ein Faktum. – Auch im folgenden Jahrhundert stoßen wir bei einflussreichen Autoren auf dieselbe Betonung der Freiheit Gottes einerseits und der Kontingenz der Welt andererseits. [10] Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts bemüht Roger Cotes in der Vorrede zu der von ihm besorgten zweiten Auflage von Newtons Principia mathematica (1713: 17) die Kontingenzthese: «Auf keine Weise konnte die, durch die schönste Mannichfaltigkeit der Formen und Bewegungen ausgezeichnete Welt anders, als aus dem freien Willen des alles vorhersehenden und beherrschenden Gottes hervorgehen. Aus dieser Quelle sind alle jene sogenannten Naturgesetze hervorgegangen, in denen man wohl viele Spuren von weiser Ueberlegung, aber keine von einer Nothwendigkeit wahrnimmt.» So fromm und gottesfürchtig dies alles gemeint sein mochte, so desaströs waren die kosmologischen Implikationen einer solchen Entfesselung der göttlichen Souveränität. Die Einzigkeit der Welt kann jetzt ebenso wenig vorausgesetzt werden wie die Notwendigkeit ihrer Ordnung.
Genauso einschneidend waren die anthropologischen Konsequenzen. Wenn es keine kosmologische Ordnung gibt, kann auch der Mensch kein Teil von ihr sein. Der klassische Kosmos war ja ein lebendiges Wesen, das den Menschen als eines seiner unverzichtbaren ‹Organe› einschloss. Und wie schon zuvor die Stoiker hatten auch christliche Theoretiker die Auffassung vertreten, dass der Mensch nicht nur irgendein Teil, sondern das Zentrum des Kosmos sei. Von einer kontingenten Welt kann das nicht mehr behauptet werden; sie steht dem Menschen gleichgültig oder gar feindlich gegenüber. Parallel zu der aufkommenden Begeisterung über die Würde des Menschen beginnt in der Renaissance daher eine beißende Kritik am Anthropozentrismus der klassischen Tradition, wie wir sie bei Montaigne bereits kennengelernt haben. Wer, so fragt er in der Schutz schrift, hat den Menschen beredet, «daß das bewunderungswüdige Herumdrehen des Himmelsgewölbes, das ewige Licht der so kühn über seinem Haupte hinlaufenden Fackeln, die furchtbaren Bewegungen des unermeßlichen Meeres bloß zu seiner Bequemlichkeit, und zu seinen Diensten gemacht sind, und so viele Jahrhunderte gedauert haben. Kann man sich etwas so Lächerliches
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