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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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gen Himmel sehen: und die Kameele und Strause scheinen mir noch einen höhern und geradern Hals, als wir, zu haben.
M. de Montaigne
    «Der Mensch ist das elendeste und gebrechlichste unter allen Geschöpfen: und dennoch das hoffärtigste. Er merkt und siehet, daß er hier in dem Schlamme und Unflathe der Welt wohnet, daß er an das schlechteste, lebloseste, und trägeste Theil dieses Ganzen, an das unterste und von dem Himmelsgewölbe am weitesten entlegende Stockwerk nebst den Thieren, welche von der schlechtesten Art unter den dryen sind, gebunden und angenagelt ist. Nichts desto weniger will er sich durch Einbildung über den Krais des Mondes schwingen, und den Himmel unter seine Füsse bringen.» Es ist offenbar kein besonders liebliches Bild des Menschen und seiner Lage in der Welt, das hier gezeichnet wird; harscher hätte es auch Lothario Segni nicht zu zeichnen vermocht. Doch es stammt nicht aus dessen berüchtigter Litanei über die miseria hominis, sondern aus Montaignes Schutzschrift für Raimond von Sebonde (1 580: 32f.). Ein größerer Gegensatz zu der Position, die Manetti ein Jahrhundert zuvor gegen Segni formuliert hatte, ist kaum vorstellbar. Wenn wir Montaigne wie Manetti als Repräsentanten der Renaissance gelten lassen, so zeigt sich uns diese Epoche als eine Zeit der theoretischen Spannungen und Kontroversen, als ein historischer Normalfall also. Die wohl bedeutendste dieser Kontroversen haben wir oben [Kap. 10] kurz gestreift: die unter dem Namen ‹Reformation› zusammengefassten theologischen Auseinandersetzungen mit ihren tiefen Auswirkungen auf die gesamte europäische Kultur. Auch die Reformatoren wollten von der menschlichen Würde und Erhabenheit nichts wissen und haben ein anthropologisches Denken gefördert, das eher an Segni anknüpft als an Manetti. Für sie ist die menschliche Natur durch den Sündenfall bis ins Mark verdorben und Luther spricht, wie wir gesehen haben, lieber von der Verkrümmung des Menschen als von seinem aufrechten Gang. Der versöhnlichen Deutung der Ursünde und ihrer Folgen, der wir auch bei Thomas von Aquin begegnet sind, macht er ein radikales Ende: Der Mensch ist ein «schendlicher, fauler, stinckender madensack». (1531: 492)
    Es sind also nicht nur Freundlichkeiten, die den Anbruch der modernen Zeit begleiten. In das Loblieb auf die Schönheit und Kreativität des Menschen, das wir bei Manetti hören, mischen sich bei Luther, bei Montaigne und anderen Autoren schrille und düstere Klänge. Zum Beispiel die des elisabethanischen Dichters und anglikanischen Predigers John Donne. Als er im Winter 1623 schwer erkrankt, verfasst er eine Reihe von kurzen meditativen Texten, die er im Jahr darauf unter dem Titel Devotions upon Emergent Occasions herausgibt. Sie beginnen mit einer Klage über das wechselhafte und erbärmliche Schicksal des Menschen, der zwischen Gesundheit und Krankheit hin- und hergeworfen wird, ohne die Ursache dieser Wechselfälle erkennen zu können. Er ist ein Mikrokosmos auch darin, dass er Katastrophen aller Art in sich trägt: Erdbeben, plötzliche Erschütterungen, Blitze, Donner, Verdunkelungen, Flüsse von Blut. In der dritten Andachtsmeditation kommt er auf die einzige Prärogative zu sprechen, die der Mensch gegenüber den anderen Tieren hat: seine aufrechte Gestalt. Durch sie ist er bestimmt, den Himmel zu betrachten, der seine Heimat ist. Doch was nützt ihm dieser körperliche Vorzug, fragt Donne? Und was die mit ihm verbundene Würde? «Ein Fieber kann ihn niederstrecken, ein Fieber kann ihn vernichten; ein Fieber kann dieses Haupt, das gestern eine Krone aus Gold trug, fünf Fuß in Richtung einer Krone der Herrlichkeit, heute auf die Tiefe seines eigenen Fußes niederbringen. Als Gott dem Menschen seinen Lebensatem einblies, fand er ihn flach auf dem Boden; wenn er ihm diesen Atem wieder entzieht, bereitet er ihn darauf vor, indem er ihn flach auf das Bett legt.» Von der Herrscherrolle, die dem Menschen in dieser Welt zukommt und von seinem Auftrag zur Fortführung der göttlichen Schöpfung ist nicht die Rede. Die aufrechte Gestalt wird, der Tradition folgend, als eine Prärogative eingeführt, zugleich aber in einem zweifachen Sinne relativiert. Einmal kommt sie ihm nur vorübergehend zu, denn anfänglich liegt er flach auf dem Boden und in diese Lage kehrt er an seinem Ende zurück, wenn er ebenso flach im (Sterbe-)Bett liegt. Wie im Rätsel der Sphinx erscheint die aufrechte Haltung als eine bloße Episode im Leben des

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