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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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körperlich Auferstandenen leben ja nicht mehr in einer unvollkommenen materiellen Welt mit «mannigfachen Höhen und Tiefen», sondern in einer vollkommenen himmlischen Welt, in der es keine Hubbel und Höcker gibt, über die sie zu rollen hätten.
    Dass die langgestreckte Körperform des Menschen, ob aufgerichtet oder nicht, weit ab von aller Vollkommenheit ist, wird sehr nachdrücklich in einer anderen Schrift Platons bekräftigt. Das Symposion enthält eine launige Rede des Aristophanes, die den ursprünglichen Zustand des Menschen als von dem rezenten deutlich verschieden beschreibt: als kugelförmig. Ausgestattet mit jeweils zwei Gesichtern an den gegenüberliegenden Seiten des Kopfes, vier Beinen und vier Armen, vier Ohren und zwei Schamgliedern. Auf diese Letzteren und überhaupt auf den Zusammenhang zwischen dem aufrechten Gang und der Sexualität werden wir bei späterer Gelegenheit [Kap. 26] noch ausführlicher eingehen. Hier soll uns zunächst nur die Kugelgestalt beschäftigen und was aus ihr wurde. Die bemerkenswerte körperliche Gestalt unserer Vorfahren war natürlich mit einer ebenso bemerkenswerten Fortbewegungsweise verbunden: «Man ging nicht nur aufrecht wie jetzt beliebig in der einen oder anderen Richtung, sondern, wenn sie es eilig hatten, machten sie es wie die Radschläger, die mit gerade emporgestreckten Beinen sich im Kreise herumschwingen: auf ihre damaligen acht Gliedmaßen gestützt bewegten sie sich im Kreisschwung rasch vorwärts.» Dass es sich um Kugelmenschen handelte, die sich gelegentlich kugelnd fortbewegten, war nicht nur ihrer Körperform geschuldet, sondern vor allem ihrer himmlischen Abstammung. Eine Art von ihnen stammte nämlich von der Sonne ab; die zweite von der Erde; die dritte vom Mond. Da diese göttlichen Stammeltern kugelig sind, waren es ihre Abkömmlinge auch. Zugleich besaßen sie aufgrund ihrer göttlichen Herkunft eine gewaltige Kraft und ein ebenso gewaltiges Selbstwertgefühl, sodass sie sich gegen die Götter auflehnten und ihnen schließlich sogar zu Leibe rückten. Die Götter gerieten dadurch in eine tiefe Verlegenheit, denn einerseits konnten sie eine solche Rebellion natürlich nicht dulden; andererseits wollten sie die Menschen aber auch nicht vernichten, weil dies auch den Ehrenbezeigungen und Opfern ein Ende gemacht hätte, die den Göttern von den Menschen entgegengebracht wurden. Gemeinsam mit den anderen Göttern hielt Zeus daraufhin Rat und fasste folgenden Beschluss: «Ich werde jeden in zwei Hälften zerschneiden, und die Folge wird sein, daß sie nicht nur schwächer, sondern auch uns nützlicher werden, weil sie an Zahl dann mehr geworden sind. Fortan werden sie aufrecht gehen auf zwei Beinen.» (Symp. 190) – Den Folgen dieses Beschlusses werden wir uns später zuwenden. Hier genügt zunächst der überraschende Befund: Die aufrechte Haltung und zweibeinige Fortbewegung des Menschen sind eine Strafe! Sie sind, genauer gesagt, eine Sündenstrafe, mit der sich Zeus als deutlich ungnädiger erweist als der alttestamentarische Gott. Auch dieser hatte nicht mit sich spaßen lassen und dem unbotmäßigen Menschenpaar eine Reihe harter Strafen auferlegt. Immerhin aber hatte er ihnen den aufrechten Gang gelassen.
    Wir wissen nicht, ob Origenes sich von diesem Mythos hat inspirieren lassen; abwegig ist der Verdacht nicht. Gefallen hätte ihm sicher die darin enthaltene Idee, dass die Sexualität als eine Folge der Sünde in die Welt gekommen ist. Denn nach Aristophanes sind zerschnittene Kugelmenschen von einer Sehnsucht nach der Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Vollständigkeit gepeinigt und suchen sich daher mit anderen Zerschnittenen durch Umarmung und Aneinanderschmiegen zu vereinigen. In dieser körperlichen Vereinigung erlischt ihre Sehnsucht (temporär), denn in ihr wird die Kugelform (temporär) wiederhergestellt. Gefallen hätte ihm weiterhin auch die Idee einer ursprünglichen körperlichen Vollkommenheit des Menschen, derer sie durch die Auflehnung gegen Gott verlustig gegangen sind; zu der die wiederauferstandenen Leiber dereinst aber wieder zurückfinden können. Eine solche restitutio ad integrum musste aus christlicher Sicht schon deshalb hochwillkommen sein, weil mit ihr auch eine Erlösung von jeglichem Sex verbunden wäre. Abgesehen davon, dass der Himmel nicht der Ort dafür ist, würden kugelförmige Wiederauferstehungsleiber keine Sehnsucht nach körperlicher Vereinigung verspüren, weil sie ja bereits vereinigt sind.

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