Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
einbilden, als dieses, daß sich ein so elendes und armseliges Geschöpf, welches nicht einmal über sich selbst Herr ist, und von allen Dingen verletzt werden kann, einen Beherrscher und Regenten der ganzen Welt nennet, von welcher es nicht einmal den geringsten Theil erkennet, geschweige denn regieren kann? Und wer hat denn dem Menschen das Vorrecht gegeben, welches er sich selbst anmasset, daß er in diesem großen Gebäude ganz allein geschickt sey, desselben Schönheit und Theile zu erkennen, ganz allein geschickt, dem Baumeister dafür Dank zu sagen, und von dem Nutzen und Gebrauche der Welt Rechenschaft zu geben? Er muß uns die Bestallung zu diesem wichtigen und großen Amte zeigen.» (27f.) Wir erinnern uns, dass die aufrechte Haltung über viele Jahrhunderte als diese hier eingeforderte «Bestallung» angesehen wurde. Bei Montaigne ist davon nicht mehr die Rede. – Die Rede ist aber von dem Stoiker Balbus, den wir aus Ciceros De natura deorum gut kennen, denn er hatte diese Bestallung mit Aplomb ausgefertigt. Seiner These, dass der wunderbare und gewaltige Kosmos nur für vernunftbegabte Wesen geschaffen sein könnte, hält Montaigne die Frage entgegen, ob dies allein für die Weisen gelte oder auch für «die Thoren und Ruchlosen». Im ersten Fall ginge die Welt nur wenige Menschen etwas an; im anderen sei sie für Individuen geschaffen, die eines solchen Vorzuges nicht würdig seien. Es liegt auf der Hand, dass hier ein stoischer Sack geschlagen wird, der Esel des christlichen Anthropozentrismus aber (mit)gemeint ist und (mit)geschlagen wird. Darüber vermögen auch die fromm klingenden Beteuerungen nicht hinwegzutäuschen, nach denen Montaigne die Menschen zwingen will, «sich vor der göttlichen Majestät gehorsam und ehrerbietig zu bücken, und zu Boden zu werfen». (24) Von seinen Zeitgenossen und Nachfolgern unterscheidet sich Montaigne weniger durch den Inhalt seiner Ansichten, als durch die Rücksichtslosigkeit, mit der er sie vorträgt.
Eine Implikation des vordringenden Kontingenzbewusstseins wird durch einen einfachen Schluss deutlich: Wenn die Welt kontingent und der Mensch ein Teil der Welt ist, dann ist auch er kontingent. Dies betrifft seine Existenz und seine Struktur: Es ist nicht notwendig, dass es Menschen gibt, wie es ja auch nicht notwendig ist, dass es eine Welt gibt; und wenn es Menschen gibt, dann sind ihre Eigenschaften kontingent, so wie auch die Eigenschaften der Welt kontingent sind. Auch diese Kontingenz des Menschen war theologisch vorgeprägt und von Beginn an dem christlichen Weltbild inhärent. Deutlich wird dies bereits im XXI. Buch von De civitate Dei, wo Augustinus das Problem der ewigen Höllenstrafen behandelt. Dabei suchte er heidnische Zweifel an der Möglichkeit solcher Strafen abzuwehren, die sich darauf stützten, dass sowohl die leibliche Auferstehung der Toten, als auch das ewige Brennen dieser auferstandenen Leiber in Widerspruch zur Natur des menschlichen Fleisches stehe. Dem hält unser Heiliger entgegen, dass für Gott nichts unmöglich sei und dass man Gott keine Vorschriften machen dürfe. Gott könne die von ihm geschaffene Natur beliebig umwandeln. «Wie es also Gott nicht unmöglich war, Naturen so zu bilden, wie es ihm beliebte, ist es ihm ebenso wenig unmöglich, die von ihm gebildeten Naturen beliebig umzuwandeln.» (XXI,8) Es gibt nach Augustinus also keine Natur des menschlichen Körpers, über die sich Gott nicht hinwegsetzen könnte, wenn er nur wolle. Anders ausgedrückt: Es gibt nur eine von Gott nach seinem Willen geschaffene und jederzeit änderbare und in diesem Sinne kontingente Natur des menschlichen Körpers. Das ist allerdings keine ‹Natur› im klassischen Sinne mehr, sondern eine kontingente und deshalb gestaltbare Natur. Bei Augustinus liegt das Privileg der Gestaltung noch allein bei Gott; in der Moderne wird sich der Mensch eine dicke Scheibe davon abschneiden.
In nicht-theologischer Form begegnen wir dieser These bei Montaigne wieder, wenn er die unendliche Vielfalt der Welt hervorhebt. Nicht nur die Fauna und Flora fremder, vor allem überseeischer Länder weicht von der unserer Heimat stark ab; auch die Menschen sind in verschiedenen Ländern verschieden beschaffen. Montaigne referiert eine lange Liste skurriler Berichte über Gegenden, «wo die Menschen ohne Köpfe geboren werden, die Augen aber und den Mund auf der Brust haben; wo sie Zwitter sind; wo sie auf allen vieren gehen; wo sie nur ein einziges Auge auf der Stirne,
Weitere Kostenlose Bücher