Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
nachhaltig prägende Gedanke der Notwendigkeit menschlicher Selbsterhaltung [11] gewinnt seine Schärfe und seine Tragweite erst vor dem Hintergrund eines Zerfalls der Kosmos-Idee. Oder anders gesagt: Die Betonung der menschlichen Selbsterhaltung und Kreativität fördert eine Auffassung von Natur und Welt, die ohne jede Providenz ist.
Es kann nicht überraschen, dass dieser Einbruch der Kontingenz von Beginn an auf zähen Widerstand gestoßen ist. Man könnte die Ideengeschichte der Neuzeit zu beträchtlichen Teilen als Kampf zwischen einer ‹Partei der Kontingenz› und einer ‹kosmologischen Partei› beschreiben, der auf verschiedenen Schauplätzen ausgetragen wurde: auf dem Schauplatz der Metaphysik, der Naturphilosophie, der Anthropologie, der Ethik oder der Geschichtsphilosophie. Obwohl die erste dieser ‹Parteien› über die Jahrhunderte hinweg an Boden gewonnen, die zweite hingegen verloren hat, ist dieser Kampf noch nicht beendet. Nach wie vor weigern manche sich, in einer unfreundlichen Welt zu leben, die ihnen keine privilegierte Stellung einräumt und keine ethische Orientierung bietet. Übersehen wird dabei, dass der Einbruch der Kontingenz mit einem Gewinn an Freiheit verbunden war. Schon in der humanistischen Literatur des 15. Jahrhunderts wurde der (freie) Wille des Menschen gegenüber seiner Rationalität stark aufgewertet: Auch darin sollte der Mensch ein «zweiter Gott» sein. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die Rede Pico della Mirandolas Über die Würde des Menschen, in der der Mensch als ein Wesen vorgestellt wird, das mit keiner Besonderheit ausgestattet ist und keinen ihm speziellen Platz in der Natur einnimmt. Er muss sich seinen Platz in der Welt daher selbst suchen. Pico lässt den Schöpfer der Welt eine Rede an den Menschen halten, in der es heißt: «Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du dir selbst ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.» (1496: 5f.) Der Mensch ist also frei und sein Glück besteht darin, «zu haben, was er wünscht, und zu sein, was er will». Die Erosion des Kosmos kann also nicht nur auf die Verlustseite der ideengeschichtlichen Entwicklung verbucht werden; sie schafft zugleich auch den Boden, auf dem das moderne Bewusstsein der Kreativität und Freiheit wachsen wird.
16. Mechanik des Gehens
… daß jene stolzen und eitlen Wesen, die sich mehr durch ihren Hochmut als durch die Bezeichnung Mensch auszeichnen, im Grunde – wie sehr sie sich auch erheben möchten – nur Tiere und aufrecht kriechende Maschinen sind.
J. O. de La Mettrie
Der lebende Organismus war für das klassische Denken das Paradigma jeglicher Ordnung gewesen, die Ordnung der Welt eingeschlossen. Nach Platon haben wir «allen Grund zu behaupten, das Weltall sei ein beseeltes und in Wahrheit vernünftiges Geschöpf»; ( Tim. 30c) nicht anders hatten es Aristoteles, die Stoiker und zunächst auch die Christen gesehen. Im Spätmittelalter begann dieses Bild einer globalen Harmonie zu verblassen und an seine Stelle trat langsam und zögernd die Vorstellung von der Welt als einem riesigen Aggregat selbstständiger Teile, die durch Naturgesetze zueinander in Verbindung gebracht werden. Diese vollkommen andere Ordnungsidee wurde zu einem hochwirksamen metaphysischen Ferment, das den ‹Kosmos› zerfallen und aus seinen Überbleibseln die ‹Natur› als Inbegriff aller kontingenten Dinge und Prozesse entstehen ließ. –Parallel zu dieser ‹Naturalisierung› der Welt wandelte sich die Ausgangslage des anthropologischen Denkens. Wenn unter kosmologischen Bedingungen nach dem Menschen gefragt worden war, so hatte die Antwort in der Identifikation seiner Funktion im Kosmos bestanden. Da sich alles weitere, was über den Menschen gesagt werden kann, aus dieser Funktion ergab, bestand für separate anthropologische Reflexion und Theoriebildung kein Bedarf. In einer naturalisierten Welt stellte sich die Frage nach dem Menschen gänzlich anders. Es musste nun vorausgesetzt werden, dass der Mensch an sich, also auch unabhängig von seiner Funktion im Kosmos oder seiner Beziehung zu Gott, ein
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