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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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oder einen Kopf, der mehr einem Hundekopf, als dem unsrigen ähnlich ist, haben; wo sie zur Hälfte Fisch sind und im Wasser schwimmen» usw. (207f.) Hier kommt es nicht darauf an, dass die Quellen (Herodot und Plinius), aus denen Montaigne diese Beschreibungen schöpft, zwar ehrwürdig, aber empirisch offenbar unzuverlässig sind. Entscheidend ist, dass er die Existenz solcher Menschen für möglich hielt. Der Mensch kann so sein, wie wir ihn kennen; er kann aber auch ganz anders sein und, beispielsweise, «auf allen vieren gehen». Und damit sind wir wieder zum aufrechten Gang zurückgekehrt. Er fällt bei Montaigne der Kontingenz zum Opfer; jedenfalls als notwendiges und wesentliches Charakteristikum des Menschen. Vor allem aber ist er kein humanspezifischer Vorteil, der dem menschlichen Geschlecht eine wie auch immer geartete Überlegenheit garantiert. «Der Vorzug, welchen die Poeten darinnen finden, daß wir aufrechts gehen, und im Himmel, unsern Ursprung schauen … [es folgt das bekannte Ovid-Zitat] ist ein wahrhaftig poetischer Vorzug. Es giebet verschiedene kleine Thiere, die vollkommen gen Himmel sehen: und die Kameele und Strause scheinen mir noch einen höhern und geradern Hals, als wir, zu haben. Bey wie vielen Thieren stehet nicht das Gesicht in die Höhe, und nicht vorwärts, so daß sie nicht, wie wir, gerade vor sich hinsehen? Wie viele sehen nicht in ihrer rechten Stellung eben so viel von dem Himmel und der Erde, als wir? Welche Eigenschaften unserer vom Plato und Cicero beschriebenen Leibesgestalt können nicht auch bey tausenderley Thieren statt finden?» (103f.) Mit seiner Anspielung auf Platon und Cicero distanziert sich Montaigne von der klassischen Verwendung eines Topos, den Petrarca oder Manetti noch enthusiastisch aufgegriffen hatten.
    Zwischen dem freundlichen Bild von Welt und Mensch, das Manetti gezeichnet hatte, und dem weniger freundlichen Bild Montaignes oder Donnes besteht allerdings kein unüberbrückbarer Gegensatz. Konvergenzen werden sichtbar, wenn wir nach den ontologischen Voraussetzungen jener Kreativität fragen, die Manetti so lebhaft betont hatte. Die erste von ihnen besteht natürlich in der Existenz einer Welt. Da der Mensch zu einer creatio ex nihilo nicht fähig ist, muss er eine Welt zur Verfügung haben, die ihm das Material für sein kreatives Handeln zur Verfügung stellt. Die Welt muss darüber hinaus aber auch dieses Handeln zulassen: Sie darf also nicht in jeder Hinsicht komplett und fertig, nicht vollendet sein. – Das Problem besteht nun darin, dass der Kosmos genau das ist: komplett, fertig, vollendet. In ihm gibt es keine ‹Lücken›, die durch den kreativen Einsatz des Menschen gefüllt werden könnten. Im Timaios hatte Platon die Entstehung des Kosmos als das Werk eines wohlwollenden und überlegenen Geistes dargestellt, der den Entschluss fasst, «die Welt dem Schönsten und in jeder Beziehung Vollkommenen unter allem was die Vernunft sich denken kann so ähnlich wie möglich zu machen». Die Abgeschlossenheit und Vollkommenheit ist also eine intendierte und notwendige Eigenschaft des Kosmos und um vollkommen zu sein, muss er «alle denkbaren Geschöpfe» umfassen. ( Tim. 30e–31a) Ihm kann also nichts von Bedeutung hinzugefügt oder genommen werden; er bietet daher nur schmalen Raum für menschliche Innovationen. Genuin Neues ist im klassischen Kosmos nicht vorgesehen und der Mensch kommt in seiner produktiven Tätigkeit nicht prinzipiell über Nachahmung hinaus. Eine Betonung der schöpferischen Rolle des Menschen in der Welt ist also nicht nur mit dem klassischen Nachahmungsparadigma unvereinbar, sondern auch mit dessen metaphysischer Basis: mit der Idee eines Kosmos.
    Manetti selbst ist diese Unvereinbarkeit nicht aufgefallen. Er hätte sie registrieren müssen, wenn er mit der Frage konfrontiert worden wäre, warum der Mensch denn überhaupt die Ärmel aufkrempeln und sich um die Verbesserung der Welt und um sein eigenes Überleben mühen muss, wenn doch der ganze Kosmos für ihn geschaffen und zu seinen Gunsten eingerichtet wurde. Für einen Kosmos sollte gelten, was das Neue Testament beschreibt: «Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie sähen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie.» (Mt 6,26) Die Sorge für das Überleben kann für ein kosmologisches Bewusstsein nicht das Zentrum der menschlichen Existenz, sondern nur ein Randphänomen sein. Der das neuzeitliche Bewusstsein so

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