Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
wichtiger und würdiger Gegenstand des Denkens ist. Unter dem im 17. Jahrhundert aufgekommenen Terminus ‹Anthropologie› setzte sich ein theoretisches Unternehmen durch, das in relativer Unabhängigkeit von Theologie, Metaphysik oder Ethik vorangetrieben werden kann. Die Anthropologie entsteht also aus der Erosion religiöser und metaphysischer Gewissheiten über die Ordnung der Welt und die Position des Menschen in dieser Ordnung; und sie fragt daher vor allem nach dem, was unter diesen Bedingungen über ihn noch zu ermitteln war: nach der empirischen Existenz des Menschen und seiner Stellung in einer zur Natur gewordenen Welt.
Damit hatten sich die Rahmenbedingungen auch für die Deutung des aufrechten Ganges grundlegend verändert. Betrachten wir zunächst ein scheinbar entlegenes Feld: die Auffassung vom Raum. Für das klassische Denken war der Raum ein organisches Gebilde, dessen verschiedene Regionen qualitativ und evaluativ verschieden waren. Wir haben gesehen, dass für Platon und Aristoteles oben ‹besser› gewesen war als unten, rechts ‹besser› als links und vorn ‹besser› als hinten. Diese qualitativen und evaluativen Differenzen konstituieren eine hierarchische Struktur, die auf die darin befindlichen Dinge abfärbt. Wenn Platon den vernünftigen Seelenteil im Kopf lokalisiert, den muthaften Seelenteil in der darunterliegenden Brust und die fiesen Triebe im Unterleib, so kommt jeder von ihnen an dem seinem Wert angemessenen Ort unter. Ein ähnliches Wertgefälle hatte auch der christliche Kosmos aufgewiesen, wie er etwa um die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert von Pseudo-Dionysius Areopagita in seinem bereits erwähnten Buch über die himmlische Hierarchie detailfreudig beschrieben worden war. Dionysus, der als Schöpfer des Wortes ‹Hierarchie› gilt, stellt die Welt als eine Stufenfolge von Engelschören dar, an deren Spitze natürlich Gott steht; und die sich in der Kirchlichen Hierarchie fortsetzt. Die hierarchische Stufung der Welt bildet zugleich den Heilsweg ab, den der Mensch zu durchlaufen hat, um zu Gott zu gelangen. Dieses Denken in ontologisch-ethischen Hierarchien gerät am Beginn der Neuzeit unter Druck. In Philosophie, Astronomie und Physik setzt sich ein Raumverständnis durch, in dem es keine inhärent edleren und unedleren Orte und Richtungen mehr gibt. – Diese Enthierarchisierung des Raumes ist Moment einer allgemeinen Neutralisierung der Welt, die seit dem Beginn der Neuzeit voranschreitet. Indem Fakten und Werte auseinandertreten, kommt auch den ethischen Schlussfolgerungen aus anatomischen und physiologischen Tatsachen die entscheidende metaphysische Prämisse abhanden. Es macht nun keinen Sinn mehr, den Kopf für edler zu halten als die Geschlechtsorgane; und es macht auch keinen Sinn mehr, dieses Wertgefälle mit den Platzierungen dieser Körperteile im Raum in Beziehung zu setzen. Wird der Raum als homogen und isotrop verstanden, kann die aufrechte Körperhaltung nicht mehr als im Vergleich zu anderen Stellungen inhärent besser aufgefasst werden. Ein zentrales Argument für die Überlegenheit der aufrechten Haltung gegenüber anderen Körperstrukturen bricht weg; und damit ein Argument für die Vorzugsstellung des Menschen in der Welt.
Eine weitere Konsequenz des veränderten Welt- und Ordnungsverständnisses betrifft die Analogien und Zeichen, die das klassische Denken zwischen den verschiedenen Teilen des Kosmos postuliert hatte. Diese Analogien und Zeichen, allen voran die Ähnlichkeit zwischen Mikro- und Makrokosmos, waren nicht das Produkt menschlicher Deutung, sondern der Niederschlag des planvollen Schöpfungshandelns; sie waren also ontologisch objektiv. Die Einheit und Ordnung des Kosmos ergab sich ja aus der Vernunft des Demiurgen, der Natur, des logos oder des Schöpfergottes und zeigte sich in einer Fülle von Entsprechungs- und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen seinen verschiedenen Teilen. Die Providenz hatte Spuren hinterlassen, die von uns als Symbole gelesen und interpretiert werden können. Ein solches Symbol, Bild, Zeichen war auch die körperliche Gestalt des Menschen; sie verwies auf die besondere kosmische Funktion des Menschen und auf die Lebensweise, die dieser Funktion entsprach. – Aus der zur Natur gewordenen Welt verschwinden solche Symbole und Zeichen in genau dem Maße, in dem die hinter den Erscheinungen wirkende Vernunft abstirbt. Die Realität wird entsemantisiert und die analogischen Beziehungen verblassen zu bloß subjektiven
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