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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Ähnlichkeiten. Eine ‹Bedeutung› kann jetzt auch dem aufrechten Gang nur noch metaphorisch zugesprochen werden. Charakteristischerweise hatte Montaigne ihm einen bloß «poetischen Vorzug» zugebilligt. Nichts könnte den Wendepunkt deutlicher markieren als diese ironische Formel. Ovid wird nicht mehr als theoretische Autorität zitiert, sondern als ein literarischer Schwärmer, dessen Dichtung fern aller Tatsachen bleibt. Eine solche Separierung von wörtlicher und metaphorischer Rede wäre im klassischen Denkrahmen abwegig gewesen; denn sie setzt voraus, dass Ähnlichkeitsbeziehungen und symbolische Entsprechungen das Produkt subjektiver Assoziationen sind und nur wenig über die Realität aussagen. Der Verweis- und Zeichencharakter des aufrechten Ganges verliert damit seine metaphysische Basis.
    Ausführlicher muss auf das Schicksal der Finalursachen eingegangen werden. Es ist leicht nachvollziehbar, dass und warum zielgerichtete Prozesse in einer organisch geordneten Welt einen explanatorischen Vorrang beansprucht hatten. Durch kausale Gesetze allein ist das funktionale Zusammenwirken vielfältiger Teile im Dienste eines sie alle integrierenden Organismus nur schwer erklärbar, denn sie agieren unkoordiniert und ‹blind›. Im klassischen Denken hatten Kausalerklärungen daher stets und ausdrücklich (Platon, Tim. 46c und 68e; Aristoteles, Part. anim. 639b11–21) unter dem Primat teleologischer Erklärungen gestanden. Verliert nun das organische Ordnungskonzept an Plausibilität, so entfällt der metaphysische Grund für diesen Primat. Schon am Beginn der Neuzeit bricht daher ein erbitterter Feldzug gegen die Verwendung von Finalursachen in der Wissenschaft an, der in den physikalischen Wissenschaften rasch erfolgreich war; weniger rasch in den Biowissenschaften. So ließ William Harvey seine unvollendet gebliebene Untersuchung De motu locali animalium mit der genuin aristotelischen Versicherung beginnen, dass alle Naturdinge nach dem Guten streben. Da dieses Gute manchmal anwesend, manchmal abwesend sei, sei Ortsbewegung notwendig für die Lebewesen. (1627: 15) War damit noch auf recht traditionalistische Weise auf Ziele als Erklärungsressource Bezug genommen, so verschob Harvey im Fortgang der Untersuchung allerdings die Gewichte, indem er verschiedene Arten der Ortsbewegung von Lebewesen unterschied und drei Fragen nannte, die ihn vornehmlich beschäftigten: wo die Bewegung erfolgt, wie sie bewirkt wird und mit welchen Mitteln. (27) Das besondere Interesse galt also doch nicht den Zwecken, sondern den äußeren Bedingungen und der inneren Funktionsweise von Bewegungen. Nicht um das ‹Warum›, sondern um das ‹Wie› sollte es gehen. Der Fokus seiner Untersuchung lag daher auf den Gliedern und den sie bewegenden Muskeln; bezeichnenderweise verglich er die Bewegungen der Lebewesen dann mit denen automatischer Puppen, (97f.) und griff damit dem später endemisch gewordenen Maschinenvergleich vor. Die Verabschiedung der Finalursachen für die Erklärung nicht nur physikalischer Vorgänge, sondern auch biologischer Prozesse kündigte sich bei Harvey also bereits an, ohne dass er sie konsequent vollzogen hätte.
    Das geschah nur zwei Jahrzehnte später bei René Descartes, der sich schon auf den ersten Seiten seiner 1644 veröffentlichten Prinzipien der Philosophie programmatisch gegen alle Bemühungen wandte, «in Bezug auf die natürlichen Dinge den Zweck herauszufinden, den Gott oder die Natur sich in der Verwirklichung dieser Dinge vorgenommen hat, weil wir uns in keiner Weise anmaßen dürfen, uns als Teilnehmer bei Gottes Ratschlüssen zu wähnen». (I,28) Im Folgenden legte er dann einen Systementwurf vor, der die gesamte empirische Welt «aus den allbekannten und von allen anerkannten Prinzipien, nämlich aus Gestalt, Größe, Lage und der Bewegung der materiellen Partikel» erklären zu können beanspruchte. (IV,187) Dies sollte ausdrücklich auch für Pflanzen, Tiere und Menschen gelten. Bei Letzterem allerdings nur für seine physische Seite, die Descartes scharf von seiner intellektuellen Seite unterschieden haben wollte. In seiner vier Jahre später verfassten, aber nicht abgeschlossenen Beschreibung des menschlichen Körpers führte er dieses Programm einer Physiologie des Menschen vor, die «die ganze Maschine unseres Körpers» auf eine solche Weise erklärt, «daß wir nicht mehr Anlaß zu der Annahme haben, daß es unsere Seele ist, welche in ihr die Bewegungen hervorruft, die nach

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