Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
unserer Erfahrung nicht durch unseren Willen gelenkt werden, als Anlaß anzunehmen, daß es in einer Uhr eine Seele gibt, welche die Stunden anzeigt». (1648: 141) Die Idee bestand also darin, sämtliche physischen Lebensäußerungen («Bewegungen») des Menschen allein aus der Struktur seines Körpers zu erklären: aus der Gestalt, der Größe, der Lage und der Bewegung seiner Teile. Die Irrelevanz psychischer Faktoren erläutert er mit dem Hinweis darauf, dass wir ja auch die Bewegungen der Zeiger einer Uhr nicht auf Absichten, Wünsche oder Überzeugungen der Uhr zurückführen.
Im 17. und 18. Jahrhundert wurde dieses mechanistische Erklärungsprogramm von verschiedenen Autoren mehr oder weniger konsequent auf die Fortbewegungsweise von Menschen und Tieren angewandt. [12] Ein bedeutender Durchbruch stellte sich mit dem 1836 vorgelegten Werk Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge von Wilhelm und Eduard Weber ein. Ziel ihrer Untersuchung ist es, «die zum Gehen bestimmte Maschine des Körpers» (10) aus dem Zusammenwirken ihrer einzelnen Teile zu analysieren. Die Autoren versichern, dass ihre «Theorie des Gehens» alle jene Leistungen erbringen kann, die etwa auch die Newtonsche Mechanik für die Bewegungen der Himmelskörper erbringt, neben der mechanischen Erklärung vor allem natürlich die Voraussage: «Hätte man daher niemals einen Menschen gehen und laufen gesehen und wüßte nur das Verhältnis seiner Glieder; so könnte man sich mit Hülfe der Theorie eine mit der Erfahrung sehr wohl übereinstimmende Vorstellung von diesen Bewegungen verschaffen, und das, was dabei geschähe, voraussagen.» (426) Die entscheidenden Fortschritte der Brüder Weber kamen durch die konsequente Anwendung der in anderen Kontexten bewährten physikalischen Methoden auf das menschliche Gehen und Laufen zustande: Messung, Experiment und mathematische Analyse. Ihr Ansatz wurde sofort aufgegriffen und in den folgenden Jahrzehnten weiter ausgebaut. Neue Methoden kamen hinzu, darunter die auf Etienne-Jules Marey zurückgehende Anwendung der Chronophotographie, einem Verfahren der Mehrfachbelichtung photographischen Materials, das die sukzessiven Stadien der menschlichen Fortbewegung simultan sichtbar werden lässt. Die entstehenden Bilder erlaubten eine präzise Untersuchung und Messung der Bewegungen einzelner Körperpunkte wie Gelenke oder Knochen. Die Chronophotographie ist seit dem 19. Jahrhundert ständig weiterentwickelt worden und stellt eine bis heute unverzichtbare Untersuchungsmethode dar.
Abb. 5: Schreitendes Skelett
Die vielfältigen Ergebnisse dieser Untersuchungen können und müssen hier nicht wiedergegeben werden; dass beispielsweise, wie die Brüder Weber herausgefunden haben, die Differenz der vertikalen Hebungen und Senkungen des Rumpfes beim Gehen ca. 32 Millimeter beträgt. Im Mittelpunkt des theoretischen Interesses stehen nun die anatomische Struktur der «zum Gehen bestimmten Maschine des Körpers»; zweitens die Aufeinanderfolge, Dauer und Reichweite der ausgeführten Teilbewegungen; und drittens die dabei wirkenden Kräfte sowie die Lage des Körpers in den verschiedenen Phasen der Fortbewegung. Es geht also allein um die Freilegung der inneren Mechanismen der zweibeinigen Fortbewegungsart. Mit dieser Fokussierung auf die Funktionsweise werden nicht nur die Ziele der Bewegung, sondern auch ihr größerer Kontext ausgeblendet bzw. auf die unmittelbar einwirkenden Randbedingungen reduziert. Die Einbettung in einen kosmologischen Gesamtzusammenhang ist kein Gegenstand der Theoriebildung mehr. Und schließlich bringt der mechanistische Ansatz auch das Phänomen ‹aufrechter Gang› zum Verschwinden. Mit wachsender Präzision und Detailliertheit der Analyse löst sich die Anmutungsqualität der zweibeinigen Fortbewegungsweise nahezu vollständig in eine Vielzahl von meist quantitativ bestimmten Aspekten und Elementen auf. Bezeichnenderweise tauchen Begriffe wie ‹aufrechter Gang› oder ‹aufrechte Haltung› bei den Brüdern Weber und in der nachfolgenden biomechanischen Literatur kaum noch auf. [13]
Auf der Tagesordnung der Theoriebildung erscheint ein neues Thema: der Zusammenhang zwischen theoretischer Erkenntnis und technischer Beeinflussung der Natur. Dass mechanisch erklärte Zusammenhänge prinzipiell künstlich reproduzierbar sind, gehörte von Beginn an zu den Schlüsselargumenten für die Fruchtbarkeit des mechanistischen Forschungsprogramms. Die mechanischen Gesetze erklären das
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