Der Aufstand
und eine mit rotem Samt ausgelegte Wendeltreppe hinaufstiegen. Goldgerahmte Porträts schienen Kirsty aus dem Dunkeln anzügliche Blicke zuzuwerfen, als Lillith sie durch einen langen Flur führte. Dann kamen sie in einen Raum voller Kleider, der aussah wie der größte begehbare Kleiderschrank, den Kirsty je gesehen hatte. Über eine kunstvoll verzierte Chaiselongue drapiert lag ein wunderschönes langes weißes Seidenkleid.
Lillith lächelte warmherzig. «Kommen Sie schon, ziehen Sie’s an.»
Kirsty hob es zögernd auf. «Das ist ein bisschen tief ausgeschnitten, finden Sie nicht auch?»
«Sie werden großartig darin aussehen.»
Kirsty nahm das Kleid hinter eine spanische Wand mit und begann, sich ihrer Kleider zu entledigen. Es war, als wäre sie jemand anders und nicht mehr Herrin ihres Handelns. Alles kam ihr verschwommen und weit entfernt vor. Als sie im weißen Kleid hinter der spanischen Wand hervorkam, hielt Lillith den Atem an.
«Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Mein Bruder hat ein Auge für Schönheit.» Sie trat näher an Kirsty heran. «Ich mache Ihnen den Reißverschluss zu.» Sie ließ die Hände über Kirstys nackte Schultern gleiten. «So warm und so weich», murmelte sie. «Wie Samt.»
Kirsty versuchte, sich ihr zu entziehen. Die physische Nähe einer anderen Frau war ihr nicht geheuer, und Lilliths Finger glitten über ihre Haut wie die einer Geliebten.
«Kommen Sie und sehen Sie selbst.» Lillith geleitete sie zu dem großen Spiegel und stellte sich hinter sie, noch immer die Hände auf ihren Schultern. «Schauen Sie doch mal, wie schön Sie aussehen.»
Und Kirsty blickte in den Spiegel. Sie betrachtete sich von Kopf bis Fuß und fand, dass sie wie die Braut bei einer Traumhochzeit aussah. Dann sah sie Lilliths Spiegelbild hinter sich.
Lillith lächelte, als sie Kirsty mit den Fingern durchs Haar fuhr. «Sie sollten es hochgesteckt tragen, meinen Sie nicht auch?» Ihre Lippen waren voll und rot. Doch dann teilten sie sich, und Kirsty starrte auf die weißen, hundeartigen Zähne, die plötzlich ekelhaft lang und gebogen und spitz aus Lilliths Mund hervorstanden und sich nun ihrem nackten Hals näherten.
Kirsty schrie auf, riss sich los und rannte aus der Garderobe. Laut kreischend flüchtete sie den ganzen Weg durch den Korridor zurück, während die Porträts sie höhnisch lächelnd zu beobachten schienen.
Gabriel stand am Ende des Korridors. Kirsty warf sich in seine Arme, und er hielt sie fest. Sie schrie erneut, als sie Lillith schnell auf sie zukommen sah, die Zähne gebleckt und mit einem wölfischen Grinsen.
«Schaffen Sie sie von mir weg!», schrie Kirsty.
Er zeigte auf Lillith. «Bleib, wo du bist», zischte er sie an.
Dann schaute Kirsty zu Gabriel auf. In seinen Augen lag ein Blick, den sie vorher nicht gesehen hatte. Noch nie, auch nicht in den Augen eines anderen. Sie erstarrte. Sein Mund öffnete sich und beugte sich zu ihr herab, doch diesmal nicht, um sie zu küssen.
«Der erste Biss gehört mir», sagte er.
Und das Blut spritzte über die weiße Seide von Kirstys Kleid.
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Kapitel 59
Hotel Metropol, Venedig
3.02 Uhr Ortszeit
A lex und Joel hatten sich stundenlang im Mondlicht geliebt, das auf die Betttücher aus Satin fiel.
«Du bist unglaublich», hatte er hinterher gekeucht, als er sie fest in seinen Armen hielt. «Du bringst mich noch um.» Sie hätte noch ewig weitermachen können, doch er war vollkommen erschöpft und fiel bald wieder in einen tiefen Schlaf, den Arm um ihren nackten Körper geschlungen. Sie lag neben ihm im zerwühlten Bett, streichelte seine sich abkühlende Haut und lauschte hellwach seinem Atem.
Sie segelte nun in unbekannte Gewässer und war sich dessen auch durchaus bewusst. Wenn die VIA jemals erfuhr, was sie soeben getan hatte, war es aus und vorbei mit ihr. Weder ihre Verdienste noch Harry Rumbles schützende Hand konnten sie dann noch vor der Strafe bewahren, die auf der heiligen Liste der Gebote und Verbote des Verbands in Stein gemeißelt war. Die Anführer des Weltverbands hatten die Macht, und Alex zweifelte keine Sekunde daran, dass sie diese Macht auch einsetzen würden. Man würde sie verhaften und auf dem kürzesten Weg in die Exekutionskammer führen. An einen Stuhl geschnallt, mit gehärteten Stahlringen um Handgelenke und Hals, würde sie zusehen müssen, wie der Vampir-Henker aus einer Ampulle mit Nosferol eine Spritze füllte. Dann würde die Nadel immer näher kommen. Sie stellte sich den
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