Der Aufstand
lagen überall abgetrennte, abgenagt wirkende Leichenteile.
Während Joel zusammengekrümmt dastand und würgte und hustete, wusste er bereits, welches Detail ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würde. Es war das zerbrochene, arm- und beinlose Skelett eines Kleinkinds ganz oben auf dem grausigen Berg, dessen Knochen wie sauber abgenagt wirkten.
Tränen der Wut schossen ihm in die Augen, als er die Platte mit Fußtritten bearbeitete, bis sie sich wieder über das Loch geschoben hatte. Er hob das Kreuz wieder auf und ging weiter.
Am Ende eines langen, gewundenen Tunnels, der von der Gruft abzweigte, stieß er auf einen Raum, der, wie er sofort erkannte, nur Gabriel Stones Arbeitszimmer sein konnte. Eindeutig ein Vampir mit Stil, dachte Joel, als er die kostbare Einrichtung betrachtete. Aber trotzdem ein Vampir, und dieser ganze Horror würde nie enden, bevor er Stone nicht wieder dahin zurückgeschickt hatte, wo er hingehörte: in die Hölle.
Noch immer kochend vor Wut und das Kreuz von Ardaich vor sich haltend wie ein Leuchtfeuer, stürmte Joel von Raum zu Raum, um den Rest des Hauses auszukundschaften. Seine Angst hatte sich vollständig in Luft aufgelöst. Er wollte nur noch diese Tiere finden und zusehen, wie sie verendeten. Aber mit jeder Tür, die er eintrat in der Hoffnung, dahinter einen Haufen verängstigter Vampire anzutreffen, schwand seine Hoffnung. Es dauerte einige Zeit, bevor er es sich eingestand, doch am Ende blieb ihm nichts anderes übrig. Das offene Tor, die unverschlossene Haustür, das fehlende Porträt, die leeren Zimmer – alles ließ letztlich nur den Schluss zu, dass die Bewohner von Crowmoor Hall das Haus verlassen hatten – mit der Absicht, nicht wiederzukehren.
Hatten sie irgendwie gespürt, dass er mit dem Kreuz wiederkommen würde? Oder hatte einer ihrer Informanten ihnen einen Tipp gegeben? Wie auch immer, sie waren verschwunden. Geblieben waren von ihnen nur die grausigen Beweise für ihre Gräueltaten in der Gruft.
Joel ging noch einmal in Stones Arbeitszimmer hinab und durchwühlte den gewaltigen alten Schreibtisch nach möglichen Hinweisen darauf, wohin sich die Vampire geflüchtet haben könnten. Er fand nichts. Falls sie tatsächlich nicht wiederkamen, hatte er ihre Spur verloren.
Es regnete, als er sich schweren Herzens über die gekieste Einfahrt zurückschleppte. Nachdem er so viel Mühe investiert hatte, die Vampire zu finden, waren diese jetzt einfach umgezogen. Dec Maddons Entdeckung war letztlich umsonst gewesen.
Joel hielt inne.
Dec Maddon.
Der Junge hatte bislang in allen Punkten recht gehabt: die Spinnen-Tätowierung am Hals des toten Mädchens; die Vogel-Skulpturen auf den Torpfosten; die verborgene Tür zur Gruft. Ohne ihn wäre er nie so weit gekommen. Hatte der junge Mann womöglich noch mehr gesehen oder gehört? Hatte er vielleicht sogar einen winzigen Hinweis darauf mitbekommen, wohin Stone und sein Gefolge sich zurückgezogen haben könnten? Der bloße Gedanke daran beschleunigte Joels Schritte. Er sprang in seinen Wagen, legte das Kreuz in sein Futteral und fuhr so heftig an, dass er ins Schleudern geriet. Er wollte Crowmoor Hall für immer hinter sich lassen.
Im Fahren wählte er Decs Handynummer, doch es sprang sofort die Mailbox an. Joel schaute auf die Uhr, und erst jetzt wurde ihm klar, wie spät es war. Dennoch konnte er keine wertvollen Stunden darauf verschwenden, dass er höflich bis zum nächsten Morgen wartete, bevor er das Haus der Maddons aufsuchte.
Auf seinem Weg nach Wallingford hielt er in einer Ortschaft, von wo er anonym die Polizei von Thames Valley anrief, um sie über den Berg von Leichen und Leichenteilen am früheren Wohnsitz von Gabriel Stone zu informieren. Sollen sich doch Carter und die Jungs darum kümmern, dachte er, als er im Regen zum Wagen zurückging. Er hatte Wichtigeres zu tun.
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Kapitel 67
The Ridings, Ortschaft bei Guildford, Grafschaft Surrey
Zwei Stunden davor
J eremy Lonsdale klammerte sich schon seit einiger Zeit im Arbeitszimmer im obersten Stock seines Landhauses an ein Kristallglas mit Whisky, als seine beiden Dänischen Doggen wie verrückt zu bellen begannen. Er fluchte, knallte sein Glas auf den Tisch und riss das Fenster auf.
«Castor! Pollux! Schnauze!», brüllte er in die kalte Nachtluft hinaus. Die Hunde verstummten auf der Stelle, wie schockiert vom untypischen Wutausbruch ihres Herrn. Lonsdale knallte das Fenster wieder zu und brütete weiter über seinem
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