Der Auftraggeber
versammelt. Am Kopfende des Tischs saß Martin Schloss unter einem Porträt seines Urgroßvaters Walther Schloss, der die Firma gegründet hatte. Eine elegante Erscheinung, dunkelblauer Dreiteiler, sorgfältig frisiertes silbergraues Haar. Um halb eins stand er nach einem Blick auf seine Armbanduhr auf und signalisierte so das Ende der Besprechung. Einige der Führungskräfte umringten ihn, weil sie auf ein letztes Wort des Chefs hofften.
Kemel Azouri sammelte seine Unterlagen ein und verließ unauffällig den Raum. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit schmalen, aristokratischen Zügen und grünen Augen. Innerhalb des Schloss'schen Imperiums war er eine prominente Gestalt - nicht nur wegen seines Aussehens, sondern auch wegen seiner bemerkenswerten Biographie. Der in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon geborene Kemel hatte an der Universität Beirut kurz Medizin studiert, bevor er auf Arbeitssuche nach Europa gekommen war. Schloss hatte den jungen Mann eingestellt und ihm zunächst einen unbedeutenden Job in der Vertriebsabteilung gegeben. Kemel hatte sich so bewährt, daß er in nur fünf Jahren zum Vertriebsleiter für den Nahen Osten aufgestiegen war. In dieser Position mußte er so viel reisen, daß ihm keine Zeit für eine Familie oder irgendeine Art Privatleben blieb. Aber er litt keineswegs darunter, daß er nie Zeit gehabt hatte, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Dafür entschädigte ihn sein beruflicher Erfolg. Letztes Jahr war er zum Vertriebsleiter des Gesamtkonzerns aufgestiegen. Martin Schloss hatte ihn zum Multimillionär gemacht. Er wohnte in einer Villa mit Blick auf die Limmat und ließ sich in einem firmeneigenen Mercedes mit Chauffeur in Zürich herumfahren.
Jetzt betrat er sein Büro - ein großer Raum, hohe Decke, Orientteppiche, helle dänische Möbel, prachtvolle Aussicht auf den Zürichsee. Er setzte sich in den Sessel am Fenster und überflog seine Notizen, die er sich während der Besprechung gemacht hatte.
Zehn Minuten später klopfte seine Sekretärin an und kam herein. »Guten Tag, Herr Azouri. Ich hoffe, die Besprechung ist gut verlaufen.«
Sie sprach deutsch mit ihm, und er antwortete fließend in derselben Sprache. »Danke, sehr gut, Margarete. Irgendwelche Nachrichten für mich?«
»Ich habe sie auf Ihren Schreibtisch gelegt, Herr Azouri. Dort liegen auch die Fahrkarte und die Hotelreservierung in Prag. Sie sollten sich allerdings beeilen. Ihr Zug geht in vierzig Minuten.«
Kemel blätterte in den Gesprächsnotizen. Nichts, was einen sofortigen Rückruf erfordert hätte. Er band sich seinen Seidenschal um, zog den Mantel an und setzte seinen weichen Filzhut auf. Margarete hielt Aktenkoffer und Reisetasche für ihn bereit.
»Ich möchte die Zeit im Zug nutzen, um etwas Papierkram aufzuarbeiten«, sagte Kemel.
»Ich belästige Sie nicht, solange nichts wirklich Wichtiges passiert. Ihr Fahrer wartet unten.«
»Sagen Sie Robert, daß er sich den Nachmittag freinehmen soll. Ich gehe zu Fuß zum Bahnhof. Ich kann etwas Bewegung brauchen.«
Einzelne Schneeflocken wirbelten über die Bahnhofstraße, als Kemel an den glitzernden Auslagen der Luxusgeschäfte vorbeiging. Er betrat eine Bank und hob einen größeren Betrag von seinem privaten Nummernkonto ab. Fünf Minuten später war er mit dem in einem Geheimfach seines Aktenkoffers versteckten Geld wieder auf der Straße.
Kemel erreichte den Hauptbahnhof, durchquerte die große Halle und vergewisserte sich, daß er nicht beschattet wurde. Dann trat er an einen Zeitungskiosk und kaufte einen Stapel Zeitungen für die Zugfahrt. Während er auf das Rückgeld wartete, sah er sich erneut nach etwaigen Beschattern um. Nichts.
Er ging auf den Bahnsteig hinaus. Der Zug nach Prag würde in wenigen Minuten abfahren. Kemel stieg in der ersten Klasse ein und folgte dem Seitengang zu seinem Abteil. Es war leer. Als er seinen Mantel aufhängte und sich ans Fenster setzte, verließ der Zug bereits den Bahnhof. Kemel nahm die Zeitungen aus seinem Aktenkoffer. Er begann mit der Europaausgabe von The Wall Street Journal, danach kamen die Financial Times, die Londoner Times und zuletzt Le Monde an die Reihe.
Eine Dreiviertelstunde später brachte der Speisewagenkellner ihm den bestellten Kaffee. Kemel begann die südamerikanischen Verkaufszahlen des letzten Quartals durchzuarbeiten - ganz der erfolgreiche leitende Angestellte, der zu energiegeladen ist, um sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen. Bei diesem
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