Der Auftraggeber
Gedanken mußte er lächeln, denn die Wahrheit sah völlig anders aus.
Kemel Azouri hatte viele Jahre lang ein Doppelleben geführt: Er war Manager bei Schloss Pharmaceuticals gewesen und hatte zugleich als PLO-Agent gearbeitet. Seine Position bei einer angesehenen Firma hatte sich als erstklassige Tarnung erwiesen: So konnte er Europa und den Nahen Osten bereisen, ohne das Mißtrauen von Sicherheits- und Geheimdiensten zu wecken. Als perfekter Wolf im Schafspelz bewegte er sich in den elitärsten und kultiviertesten Kreisen Europas, arbeitete mit den mächtigsten Wirtschaftsbossen zusammen und verkehrte gesellschaftlich mit den Reichen und Berühmten. Gleichzeitig arbeitete er jedoch auch für die PLO, baute Netzwerke auf, warb Agenten an, plante Unternehmen, übermittelte Nachrichten und sammelte im gesamten Nahen Osten Spendengelder ein. Er nutzte das Logistiksystem von Schloss, um Waffen und Sprengstoff an Einsatzorte zu transportieren. Tatsächlich bereitete ihm der Gedanke, daß zwischen lebensrettenden Medikamenten Mord- und Terrorwerkzeuge verpackt waren, stets ein ziemlich morbides Vergnügen.
Jetzt war seine persönliche Situation noch komplizierter geworden. Als Jassir Arafat sich bereit erklärt hatte, zukünftig auf Gewalt zu verzichten und Verhandlungen mit den Zionisten aufzunehmen, war Kemel darüber so empört gewesen, daß er sich heimlich mit seinem alten Kampfgefährten Tariq al-Hourani verbündet hatte. Kemel fungierte als Leiter der Planungs- und Einsatzabteilung von Tariqs Organisation. Er verwaltete die Finanzen, unterhielt das Kommunikationsnetz, beschaffte Waffen und Sprengstoff und übernahm die Einsatzplanung - alles von seiner Züricher Villa aus. Ihre Partnerschaft war ziemlich einzigartig: Tariq, der brutale Terrorist und eiskalte Mörder; Kemel, der vornehme und angesehene Strohmann, der ihn mit allem Nötigen versorgte.
Kemel klappte den Vertriebsbericht zu und sah auf. Verdammt! Wo bleibt er? Tariq machte alles auf seine Art, aber daß er sich bei einem Treff verspätete, war ungewöhnlich. Vielleicht war irgend etwas schiefgegangen.
In diesem Augenblick ging die Abteiltür auf, und ein jüngerer Mann kam herein: langes blondes Haar, Sonnenbrille, Baseballmütze mit dem Abzeichen der Yankees, wummernder Beat aus den Kopfhörern seines Walkmans. Um Himmels willen! dachte Kemel. Wer ist dieser Idiot! Jetzt läßt Tariq sich bestimmt nicht mehr blicken.
»Tut mir leid, aber Sie sind im falschen Abteil«, sagte er. »Hier ist alles besetzt.«
Der Blonde zog einen Ohrstöpsel heraus. »Was? Ich kann Sie nicht verstehen.«
Er sprach Englisch wie ein Amerikaner.
»Hier ist alles besetzt«, wiederholte Kemel ungeduldig. »Bitte gehen Sie, sonst rufe ich den Schaffner.«
Aber der Mann ließ sich in die Polster fallen und nahm seine Sonnenbrille ab. »Friede sei mit dir, mein Bruder«, sagte Tariq halblaut auf arabisch.
Kemel mußte unwillkürlich lächeln. »Tariq, du Hundesohn!«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, als Ahmed sich nicht mehr gemeldet hat, als ich ihn nach Griechenland geschickt hatte«, berichtete Kemel. »Dann habe ich von dem Leichenfund in der Villa auf Samos gehört und vermutet, daß ihr miteinander gesprochen hattet.«
Tariq schloß kurz die Augen und hielt seinen Kopf leicht schief. »Er war nachlässig. Du solltest deine Kuriere besser auswählen.«
»Aber hast du ihn wirklich erschießen müssen?«
»Du findest einen anderen - hoffentlich einen besseren Mann.«
Kemel betrachtete ihn prüfend. »Wie geht's dir, Tariq? Du machst keinen…«
»Gut«, unterbrach Tariq ihn. »Wie kommt die Sache in Amsterdam voran?«
»Recht gut. Leila ist jetzt dort. Sie hat eine Frau und eine Unterkunft für dich gefunden.«
»Erzähl mir von ihr«, verlangte Tariq.
»Sie arbeitet in einer Bar im Rotlichtbezirk. Lebt allein auf einem Hausboot auf der Amstel. Die perfekte Tarnung.«
»Wann fahre ich hin?«
»In ungefähr einer Woche.«
»Ich brauche Geld.«
Kemel griff ins Geheimfach seines Aktenkoffers und übergab Tariq den Umschlag mit Bargeld. Tariq steckte ihn wortlos ein. Dann betrachteten seine hellen grauen Augen Kemel prüfend. Wie jedesmal hatte Kemel das unbehagliche Gefühl, Tariq überlege, wie er ihn am besten umbringen könnte, falls das notwendig werden sollte.
»Du hast mich bestimmt nicht die weite Reise machen lassen, um mich zu kritisieren, weil ich Ahmed erschossen habe, und dich nach meiner Gesundheit zu erkundigen. Was hast du noch für
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