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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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abhängen. Lila. Erikafarbener Schal‐Kragen.
    Der, wie grobe Spitze. Das Lila durchlocht. Das ganze seidig.
    What now, my love?
    Könnte sein, daß sie in seiner Art Zärtlichkeit unerfahren ist. Dachte sie heute, nach seinem zweiten Anruf. Als sie auf
    den dritten, der nicht kam, gewartet hat. Zum Glück gibt es
    die Hits.
    You make me feel like a natural woman.
    Das mußte sie summen und singen gegen die entnervende
    Angst, alles könne nur ein Sprachspiel sein und bleiben, fernmündlich wie schriftlich, folgenlos. Schnell wieder mit Madelon ins Kino.
    Falling in Love. Mit Meryl Streep. Auch eine Vassar‐Frau.
    Sie hatte den selben Schauspiellehrer wie Meryl Streep. War
    aber unentdeckt geblieben. Madelon und sie nach dem Film,
    stumm. Dieses Sichfinden, Sichtrennen, Sichwiederfinden
    und Wiedertrennen bis zum Gehtnicht‐mehr beziehungs‐
    weise Dochnochhappyend. Eine freche Spekulation mit der
    menschlichen Bedürftigkeit. Und das Beleidigendste: die Ge‐
    nauigkeit, mit der sie da berechnet werden. Aber daß sie dem Streep‐De‐Niro‐Getrapse lechzlechz hinterhertrapsen,
    gibt Hollywood recht. Die ähnlich operierenden Religionen

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    versprechen ihren Opfern wenigstens eine Belohnung im
    Jenseits. Hollywood kassiert unser Geld und unsere Seelen und liefert dafür neunzig Minuten.
    Weil sie von ihrer Mutter geweckt wurde, fernmündlich,
    fing sie sofort an, mit ihr zu streiten, weil sie nur noch von ihm geweckt werden will. Die Schmutziggelbe ist fertig. Die
    schönste, die sie je gestrickt hat. Und das in neun Tagen. Und
    es hat eine Zeit gegeben, und die hat sie überlebt, da kam nur alle drei Wochen ein Brief von ihm. Und überhaupt kein
    Anruf. Steinzeit. Nein, Eiszeit. Und jetzt. Hier heißt es Itʹs not over till the fat lady sings (Opernspruch). Sein Hegel nenntʹs
    Begierde, Freud versteckt sich hinter Libido, Lacan veredelt es als Begehren, sie sagt Sehnsucht, mehr − sucht als Sehn‐.
    Jetzt wird sie ihm in jedem Brief mindestens drei Polaroids schicken, in gerade noch gebremster Obszönität. Aber wenn
    man diese ‐roids vergrößerte auf 2 x 3 Meter, dann wären das Rembrandts. To be sure. Und er hat gesagt, er trage die
    Polaroids jetzt immer bei sich. Auf seinem Körper, hat er gesagt. Und das nicht aus Sicherheitsgründen! Und: Er fühle
    sich so gesund wie noch nie!
    Am Telephon, seine Stimme! Sie möchte am ganzen Körper
    Ohren haben!
    Die Naturgeschichte der Seele. Und löst sich auf in ihm. Vergißt, daß er von der ehrenwerten Gesellschaft umgeben, um-ringt, bewacht ist. Er muß seiner Themire schwören, nie mehr anzurufen, wenn er gezwungen sein kann, einfach auf-zulegen.
    Gestern sein schönster Brief, so far. Zum ersten Mal ist sie
    «Liebste», zum ersten Mal gibt er sich ausführlich mit ihren
    Küssen ab. Es hilft tatsächlich, das Wort Sehnsucht auszu-99
    sprechen. Hilft ist falsch. Es heizt. Reizt. Die Sehnsucht erwacht eben, wenn man sie nennt. Die Jahre, die er
    zwischen ihr und ihm aufbaut wie ein unpassierbares Ge‐
    birge, putzt sie weg wie nichts. Dazu paßt, daß er dann auch
    in jedem zweiten Brief vorschlägt, nur in chinesischen
    Restaurants zu essen, weil es in denen so schummrig ist. Sie
    wird ihn in die Helle führen. Tag und Nacht. Unter eine Operationslampe wird sie ihn legen zum Küssen und so
    weiter. Sie ist nämlich S & M. Das sagt man hier für pervers.
    Er weiß eben nicht, daß sie als Kind gefährdet war, weil sie
    alles in den Mund genommen hat. Nach dem Regen hat sie
    aus Pfützen getrunken. Ihre Mutter, Weltmeisterin in
    Reinlichkeit und Peinlichkeit, verzweifelte schier. Es gab jetzt Träume, die sie Dr. Douglas nicht hinplaudern konnte. Ihm auch nicht. Nein, ihm auch nicht. Noch nicht. Vielleicht im März. Ins Ohr. Sie saß an einem Kindertisch und hatte den Mund voller Kot. Um sie herum mehrere Gleichaltrige, die, obwohl sie den Kot verbergen wollte, merkten, was sie im Mund hatte. Sie versuchte, den Kot hinter vorgehaltener
    Hand auszuspucken. Er fiel unter den Tisch und war jetzt erst recht sichtbar. Dann spuckte sie den Rest noch in eine Serviette, mit der sie dann auch noch den Boden säuberte.
    Dann sagte Patricia Best, sagte es aber wie zum Spaß, daß sie
    mit ihr intim werden wolle. Das sei ihr Traum, von einer jungen Frau zum Auto gebracht zu werden. Sie aber rief
    nach Glen O. Rosenne. Aber der kam nicht. Patricia bot ihr den kurzen Arm und sagte: Komm, Kind. Und zeigte auf den
    Kot, der wieder unter dem Tisch lag, sichtbarer als je

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