Der Augenblick der Liebe
die
größte Schwierigkeit: die französischen Sätze. Die verlangten
doch einen ganz anderen Laut. Die französischen und die
englischen Vokale sind einander so fremd wie eine
Mondnacht und ein Diamantcollier. Beides blitzt, aber wie verschieden! Da heißt es, das ganze Nervensystem in
Nullkommanichts umzustellen. Hier gewölbte Mondschein‐
laute und da vor Energie blitzendes Gesteinsfeuer. Eine
Sprache ist ja zuerst eine Melodie und erst dann ein System
aus Grammatik und Wortbedeutungen. Jetzt war es an ihm,
nicht nachzugeben. Jetzt war er unersättlich genau. Ihm war
die Performance dort in der Dwinelle Hall wichtiger als die Übersetzung. Er wollte die überraschen, eine flawless
Performance wollte er, die sollten staunen. Zehn Seiten, zu lesen in dreißig Minuten. Fünfzehnmal hatte er die zehn
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Seiten sicher gelesen, bis er, von Beate J. kritisch abgehört, alle Töne so herausbrachte, daß die englische Sprache nicht aller wunderbaren Laute beraubt zu sein schien. Er hätte noch weitergelesen, aber die Regisseurin warnte: Dann
bringe er zwar die Intonation, aber die Stimmbänder
schlügen nicht mehr an. Er ging sofort auf Flüstern über. In
diesem Augenblick, sagte sie, sei sie so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Der Text funktioniere jetzt auch auf Englisch, Gottlieb W. sei ziemlich musikalisch, das heißt, seine Aussprache sei nicht mehr barbarisch.
In der letzten Nacht vor Berkeley träumte Gottlieb, daß
Professor Rosenne zu ihm sagte: Ihr Englisch ist so exzellent,
daß ich Sie nicht mehr für einen Ausländer halten kann. Das
sagte er vor allen Zuhörern. Gottlieb bedankte sich für dieses
Kompliment mit einem englischen Satz, in dem ihm ein
grober Fehler unterlief. Die Zuhörer lachten laut, Professor Rosenne lachte auch, aber er lachte so, daß klar wurde, er habe das Kompliment nur gemacht, um Gottlieb zu dieser
Selbstentlarvung zu provozieren. Gottlieb erzählte den
Traum Beate J. Themire, bat aber darum, von Dr. Douglasʹ
Auslegungen verschont zu bleiben. Und sie: Hättest duʹs
lieber ä la Goethe? Wieso, wie gehtʹs á la Goethe? Na ja, sagte
sie fast genießerisch, Frau Herder hat einmal nichts Besseres
zu tun gewußt, als Goethe einen närrischen Traum zu erzählen, und er rät ihr überhaupt ab, so zu träumen, wie sie
träumt, und sagt, das Schlimmste sei, die Träume machten den Verstand krank. Und bevor Gottlieb reagieren konnte,
sagte sie energisch, daß Goethe hier wohl Ursache und
Wirkung verwechselt habe. Ja, sagte Gottlieb, er hing dann sehr am Beherrschbaren.
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Sie stand jetzt schon vor dem Spiegel, sie kämmte sich, sah
sich an und sagte: Immer wenn du mit mir geschlafen hast,
bin ich doppelt so schön wie vorher. Immer? sagte er. Und sie: Jetzt schon viermal, Sylvandre. Und gab ihm einen
kleinen Schubs, der genügte, ihn aufs Bett zu werfen. Und sofort war sie neben ihm und halb auf ihm und, als gäbe es
keine Termine, fuhr sie mit ihrem Zeigefinger seine Ohren nach, die Augenbrauen, die Nase, die Lippen. Die Lippen
immer wieder. Da ihm das guttat, fuhr er ihr auch so sachte
mit dem Zeigefinger ihren Gesichtsplan nach. Ihm blieb
nichts anderes übrig als zu sagen, so habe er, als seine Töchter noch Kinder waren, auch deren Profile mit einem
liebenden Zeigefinger nachgefahren. Wahrscheinlich nur bei
Julia, sagte sie, weil sie auf die, vom selben Jahrgang, eifersüchtig zu sein vorgab. Er griff nach Julias Namen wie nach einem Rettungsring und spulte vaterschmerzbewegt
die Julialegende herunter. Fährt neuerdings mit Bus und
Boot durch Berlin und erklärt Ausländern die Museumsinsel,
die Nationalgalerie, den Potsdamer Platz und den Reichs‐
tagsbau plus Geschichte, die Kuppel. Auf Englisch. Hat ja zwei Jahre mit und bei einem irischen Alkoholiker in Dublin
gelebt. Sie hat den nicht ernähren können in Irland, also mußte sie gehen. Ihren jetzigen Alkoholiker, und es ist
wieder ein Ire, kann sie ernähren, aber eben in Berlin. Die Verbindung hält. Sie hat in ihrem Leben noch keinen Tropfen
Alkohol getrunken. Wahrscheinlich zieht das die Alko‐
holiker an. Der Jetzige hat noch nie etwas gearbeitet. Und ist
stolz darauf. Er werde, sagt er, sich nie ausbeuten lassen und
werde nie andere ausbeuten. Und da das bei Arbeit immer die Gefahr ist, meidet er Arbeit. Weil Beate wissen wollte, 155
wie der seine Zeit verbringe, mußte er ihr erklären, daß dieser Ire Tag und Nacht lese und schreibe, also keinesfalls untätig
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