Der Augenblick der Liebe
Wenigstens die Übersetzung
könnte er loben. Aber das hatte ja Beate schon verraten, daß
der Herr sich jeder Reaktion enthalten habe. Machtaus‐
übung, dachte Gottlieb. Das hat der schon voll drauf.
Wahrscheinlich ist es ihm jahrelang so gegangen. Der, dem 158
etwas vorgelegt wird, kann den, der etwas vorlegen muß,
schon durch Nichtreagieren förmlich zermürben. Wenn man
das übersteht und dann selber der ist, dem etwas vorgelegt werden muß, zermürbt man den, der jetzt von einem
abhängig ist, genau so, wie man selber immer zermürbt
worden ist. Gottlieb dachte: Du zermürbst mich nicht. Das hatte er hinter sich. Irgendwann muß Schluß sein mit diesem
Abhängigsein von anderen. Sonst hast du umsonst gelebt.
Daß er umsonst gelebt habe, mußte er sich allerdings dann und wann eingestehen. Aber, bitte, nicht hier, zehn Flug-stunden von daheim. Hier kommt es auf nichts an. Die
wissen doch alle nicht, daß du nicht ihretwegen hier bist. Du
bist hier wegen dieser viel zu jungen Frau. Das ist alles so gekommen, wie es keiner wissen darf. Und das ist deine
Stärke, dein Schutz und Schirm, die können dir alle egal sein,
dir kommt es nur auf sie an, Themire. Du bist hier nur als Sylvandre. Laß alles schief gehen, aber es wird nicht alles schief gehen, nie geht alles schief, aber selbst wenn alles schief ginge, Themire und Sylvandre sind ein Paar, La
Mettrie ist Zeuge.
Dr. Wendelin Krall war der erste Referent der La Mettrie-Tagung in Kalifornien. Vielleicht war Gottlieb der Un‐
wichtigste, vielleicht der Wichtigste. Beate hatte aus‐
weichend geantwortet. Sie war zum Programmaufbau nicht
befragt worden. Offenbar waren alle, die zur Tagung gekom‐
men waren oder kommen würden, schon zum ersten Referat
erschienen. Der Hörsaal war gut besetzt. Gottlieb zählte im Hineingehen die Reihen, multiplizierte mit zwanzig, soviel etwa saßen in einer Reihe, also, dreihundert Plätze, davon zirka zweihundert besetzt. Vorne erwartete ihn der Profes-159
sor, die Vorstellung besorgte jetzt Mr. Hardy, Beate hatte sich schon im Hineingehen von Gottlieb getrennt, hatte
irgendwo Platz genommen. Der Händedruck des Professors
war so lasch weich unspürbar, wie der von Rick Hardy krass
und aggressiv war. Man hätte wieder die Hand besehen und
sie fragen können: War was? Und Frau Professor Patricia
Best! Gottlieb behielt ihre Hand viel länger in der seinen, als
es üblich war, und sagte aus vollem Herzen, daß er sich sehr
freue, Frau Professor Best kennenzulernen. Daß er von ihr gehört und zwar nur Schönes gehört habe, konnte er, wollte
er nicht verbergen. Dr. Krall durfte in der ersten Reihe zwischen Patricia Best und Rick Hardy Platz nehmen.
Professor Dr. Glen O. Rosenne eröffnete die erste La Mettrie‐
Tagung auf amerikanischem Boden mit einem Satzfragment
La Mettries: Armez‐vous du flambeau de lʹExpérience! Gottlieb fand, daß der Herr Professor den Rest des Satzes nicht hätte
weglassen dürfen. In ihm ergänzte es sich automatisch: ... et vous ferez á la Nature lʹHonneur quʹelle merite. Aber dann hätte der Professor den Trompetenton nicht geschafft, den er für den Anfang brauchte. Sieh das, bitte, ein. Gottlieb sahʹs ein.
Referenten aus fünf Ländern seien dazu erschienen, sagte der
Professor. Und da Julien Offray de La Mettrie seit Diderot immer noch verrufen sei als der bis zu de Sade unanständigste Philosoph, sei es sicher kein Zufall, daß die Refe‐
renten eher aus katholischen als aus protestantischen Ländern kämen. Daß aber auch protestantische Gegenden aus
ihrem Anstandsschatten heraustreten können, beweise das
Gastgeberland, die USA.
Einen Satz des Professors notierte Gottlieb sofort und
verbarg nicht, daß er das tat. Deutsch zitierte der Professor 160
einen Satz von Nietzsche: Der Glaube an den Leib ist funda-mentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt). Dann also, Herr Dr. Wendelin Krall.
Sein Thema: Rise to the occasion. Bitte, Herr Dr. Krall.
Wenn ein Amerikaner deinen Namen mit Herr versieht, klingt das wie ein Distanzierung. Wenn du daheim einen als
Mr. Rosenne ankündigen würdest, klänge das nicht kritisch.
Vielleicht liegt es an diesem Herr. Vielleicht wissen die Ausländer, was für ein Wort das ist. Vielleicht denken sie tatsächlich an Herrenrasse. Gottlieb mußte anfangen. Rise to the occasion. Er fing vorsichtig an,
Weitere Kostenlose Bücher