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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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versuchte aber zu zeigen,
    daß es die Fremdsprache war, die ihn vorsichtig machte. Der
    Schwung würde dann schon kommen. Der La Mettrie‐
    Schwung: á la Nature lʹ Honneur quʹelle merite. Noch redete er vor sich hin. Gab den Schüchternen. Schonte er sich? War etwas mit seiner Stimme? Wagte er schon gar nicht mehr, draufloszusprechen? Und bei der ersten Umschaltung ms
    Französische, la douceur de mon caractére, spürte er einen Stich im Hals, sprach aber weiter, konzentrierte sich weniger
    darauf, ob der Stich schärfer werde, als auf den Text,
    versprach sich aber gleich zum ersten Mal. Der Stich nahm zu. Wenn der so zunehmen würde, könnte er bald nicht
    mehr weiterlesen. Aber wegen eines Stichs würde er nicht aufhören. Sollte es wehtun, das ging ihn nichts an. Er hatte einen Nagel im Hals. Bitte, dann sprichst du eben mit einem
    Nagel im Hals. Es gibt Schlimmeres als einen Nagel im Hals.
    Kein Schmerz der Welt würde ihn zwingen, das Referat, das
    ihn ganz enthielt, abzubrechen! Es war ihm weder schwind‐
    lig noch schlecht. Er hatte nur diesen Nagel im Hals, der bei

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    jedem Wort zustach. Sollte er! Das tat weh. Bitte, sollte es wehtun! Nachher würde er Beate genau schildern, was das
    für eine Qual war, bei jedem Wort dieser Stich, und wenn er
    nicht das Gefühl gehabt hätte, er spreche für sie nur für sie,
    hätte er diese Tortur nicht überstanden. Er sprach für Beate!
    Aber als er zum ersten Zitat aus dem Dictionnaire Universel kam, machte die Stimme nicht mehr mit. Es gab sie nicht mehr. Er konnte seiner Kehle, den Stimmbändern, dem
    Mund befehlen, was er wollte. Nichts als ein Krächzen. Das
    klang grotesk. Lieber nichts mehr als dieses Krächzen.
    Erledigt. Aus. Da stand schon Rick Hardy vor ihm, der hatte
    schon Kontakt mit Beate, der sagte schon an, solange der Referent nicht bei Stimme sei, werde Beate Gutbrod, sowohl
    Übersetzerin dieses Textes wie gerade beim Schreiben einer Doktorarbeit über La Mettrie, den ihr durchs Übersetzen
    geläufigen Text vorlesen.
    Bitte, Beate.
    Beate sprechen die hier tatsächlich ziemlich schräg aus,
    dachte Gottlieb und ging, den Blick auf dem Boden, zu dem
    Stuhl, auf dem er schon gesessen hatte. Beate las, er konnte nicht zuhören. Sie las das Englische perfekt. Perfekt amerikanisch. Aber er konnte nicht folgen. Er schluckte, er versuchte, in der Stimmbandgegend eine Empfindung zu
    wecken. Er spürte nichts als den Nagel. Auch ohne daß er sprach, stach in seiner Kehle ein Nagel. Als Beate geendet hatte, wurde, auf akademische Art, ein höflicher Beifall
    gespendet. Aber als sie auf ihren Platz zurückging, gabʹs noch Extrabeifall. Deutlich für ihre Vortragsleistung.
    Rick Hardy rief hell und lebhaft zur Diskussion auf. Als sich niemand meldete, sagte er, er werde einmal den Anfang

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    machen. Vielleicht sei der Referent inzwischen wieder bei Stimme. Schon flüstern könne bei der vorzüglichen Verstär-keranlage von Dwinelle Hall eine Kommunikation ermög‐
    lichen. Gottlieb sah und hörte und spürte, wie unvollständig
    Beate ihm diesen Rick Hardy geschildert hatte. Eine Stimme
    wie ein italienischer Tenor. Eine gelbe Lederweste, aus der ein weißer Rollkragen unmäßig herausquillt. Ein vorne
    aufknöpfbarer Rollkragen. Wahrscheinlich aus Seide oder
    feinster Baumwolle. Und diese Lachbereitschaft! Er lachte
    seinen eigenen Sätzen hinterher. I like your attempt to con-ceptualize your misere propre. Und lachte. Er wolle, sagte er,
    mit einem Zitat von T. S. Eliot beginnen. Bad poets copy, great poets steal. Und lachte. Warum er jetzt Eliot zitiere, sei ihm selber unbekannt. Aber Eliot paßt immer. Und lachte. Die Unlust des Auditoriums, sich zu Wort zu melden, könne
    damit zu tun haben, daß Mr. Krall weniger über La Mettrie und mehr über sich selbst gesprochen habe. Let me try to elucidate what Mr. Krall was trying to say. Und spezialisierte
    sich auf ein Wort: Schuldgefühle. Ein deutscher Intellektueller kommt an eine US‐Elite‐Universität und versucht unter dem
    Vorwand, er spreche über La Mettrie, den Deutschen einen Freispruch zu erschwindeln. Zweifellos sei der späte La
    Mettrie eine Art Verführung zur Gewissenlosigkeit. Aber er hat aus allzu einsichtigen Gründen nicht daran gedacht, die
    Deutschen aus ihrer von ihnen selbst verschuldeten Schuld zu erlösen. Schluß mit Schuldgefühlen! Das aus dem Mund
    eines Deutschen! La Mettrie hat, als er die Menschheit von Schuldgefühlen befreien wollte, nicht an Völkermord

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