Der Augenblick der Liebe
zu retten, nicht nur hier, jetzt, sondern überhaupt, das müsse er, um den Grad ihres
Dabeiseins zu begreifen, wissen. Er werde es schon noch
merken. Also, los jetzt.
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Wie soll sie denn das, bitte, übersetzen: Shakespearisierend kannst du dir in deinen Träumen vorkommen} Oder, wenn der Gefangene erwacht: Der Sturz des Gefangenen in sein Zeug} Ist das Heidegger oder was? Zum Glück hat sie im letzten
Sommer diesen Kurs Deutsch für Philosophen gegeben, sonst wäre sie noch ratloser gewesen. Als sie dem Professor
andeutete, daß die Übersetzung kein Spaziergang sei, habe der geraten, Rick Hardy zuzuziehen. Das sei geschehen. Der
habe gegrinst wie die Sphinx persönlich. Dann habe er
gesagt, da er ja in Berkeley die Veranstaltung mit Mr. Krall zu moderieren habe, werde er sich jetzt nur zu den Fragen, die Übersetzung betreffend, äußern. Das habe er getan. Sie müsse zugeben, ihr sei, was er dazu zu sagen gehabt habe, nichts als hilfreich gewesen. Intelligent sei der. Manchmal fast zum Fürchten intelligent. Erfahrungsgesättigte Kenntlichkeit hätte sie ohne Rick kaum geschafft. Vor allem hat er für alle deutschen und französischen La Mettrie‐Stellen die in Amerika vorliegenden englischen Übersetzungen beigebracht. Und dann auch noch die Manfred Eigen‐Sätze! Die
gibtʹs natürlich auch schon auf Englisch. Und Rick schaffte sie her.
Gottlieb genoß es, daß er nicht leicht zu übersetzen war. Er
vermutete allerdings, daß Beate J. (so wollte sie mindestens genannt werden) zu vorsichtig, zu bedenkensüchtig sei. Aber
seine Versuche, sie bedenkenloser zu stimmen, blieben
erfolglos. Er würde dort stehen, Berkeley, Dwinelle Hall, Hörsaal soundsoviel, und vor ihm säßen einhundertsiebzig
Zuhörer, darunter Professor Glen O. Rosenne, Patricia Best, Rick Hardy und dann noch die notorischen Berkeley‐Intellektuellen, sophisticated bis Zum Gehtnichtmehr. Sie wollte 151
ihm Angst machen und ihn so zwingen, das Übersetzen
nicht nur als einen Spaß Zu erleben, sondern als ein Spiel um
alles oder nichts. Er solle sich doch vorstellen, wie er da stünde, wenn er erlebte, daß er an denen vorbeiredete, über
die hinweg! Also sie habe vor jedem Referat Angst. Deshalb
rackere sie sich dann so ab, daß das Schlimmste jedesmal gerade noch vermieden worden sei. Sie wollte nicht
begreifen, daß für Gottlieb nicht soviel auf dem Spiel stehe.
Er war Amateur. Er spielte in einer anderen Liga. Er hat La
Mettrie dargestellt, wie er ihn erlebt hat, und er hat La Mettries Wichtigstes, sich selbst aufʹs Papier zu bringen, wichtig genommen. Und das ist geworden: Der Gefangene
wird sich durch La Mettrie seines Gefangenseins bewußt und
fliegt nach Kalifornien, um dort Zeugnis abzulegen für eine Wirkung La Mettries, die diesen Philosophen mehr ehrt und
erklärt als alle Wissenschaftelei. Und sie: Wenn er das in der
Diskussion nach seinem Referat sage, riskiere er, daß das Auditorium ihn auspfeife. Einmal abgesehen davon, daß sie
als seine Dolmetscherin sich unfähig fühle, Wissenschaftelei englisch auszudrücken. Das allerdings wäre ein Glück, denn
er spräche ja zu Wissenschaftlern und solchen, die es werden
wollten.
Er hatte vorgeschlagen, einen der drei Tage am Meer zu
verbringen. Sie lehnte das ab. Mit jedem Wort, für das sie eine erlebbare englische Entsprechung fänden, werde es den
hiesigen Highbrows schwerer gemacht, den Amateur aus
Germany zu belächeln oder gar zu beschimpfen. Letzteres
glaube sie allerdings nicht. Ein Campus sei ja kein Bierzelt.
Aber sie habe eben diesen Gast vorgeschlagen, also wäre sein
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Nichterfolg ihr Mißerfolg. Also kein Tag am Meer, sondern ein Ringen um jedes Wort, jede Nuance.
Diese Beate J. war viel stärker, als er geahnt hatte. Ihre Angstbereitschaft war Stärke. Ihr Ernst, ihr Genauigkeits-wille, ihre Niezufriedenheit, ihre Vollkommenheitsvorstel‐
lungen, alles nichts als Stärke. Sobald wieder ein Ausdruck gelungen war, jubelte sie. Wenn das nur nie aufhörte, konnte
sie dann sagen. Immer so weiter. Immer und ewig mit dir um Wörter ringen, Bedeutungen retten, Nuancen leuchten
lassen.
Dann die Sprechproben. Er mußte seine Mund‐, seine
Gesichtsnerven und seine Seele mit diesen englischen Sätzen
so vertraut machen, daß er jede gleich zu produzierende
Tonnuance schon im voraus wußte, einen Sekunden‐
bruchteil, bevor dieser Ton fällig war. Alles wie von selbst: So sollte Englisch aus ihm kommen. Intonation! Und
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