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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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offensichtlich lustig klingen: Are you all set, Sir? Daß das eine Kellnerfloskel war, begriff er. Und antwortete: Not at all.
    Und sagte, was alles er noch nicht habe, also, was alles er noch wolle und wünsche. Nämlich sie, sie, sie. Also gleich dreimal, sagte sie. Er erschrak ein bißchen, weil er es so konkret nicht gemeint hatte. Er tat aber so, als gebe es keine
    Grenzen. Und tatsächlich gab es die im Augenblick noch
    nicht.
    Dessen versicherten sie sich noch vor dem Abendessen.
    Aber da setzte sie ihre Mündlichkeit ein. Nahm ihm, was er

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    noch hatte, so ab und sagte dazu, sie beide seien doch Katho‐
    liken, also sei das ihre Kommunion. Da sie so hymnisch dran
    war, konnte er nicht sagen, er sei gerade nicht so hymnisch gestimmt, könne also ein so weitgehendes Zusammenkom-men nicht so natürlich praktizieren, im Gegenteil, er fühle, das gehe zu weit, noch oder überhaupt, aber das war nicht aussprechbar, er mußte, was ihr möglich war oder gar
    notwendig war, geschehen lassen, er mußte es mitmachen.
    Um ihretwillen. Obwohl ihm nicht danach war. Am liebsten
    hätte er, als sie ihn so bediente, gesagt: Sprich doch mit mir.
    Aber wenn er gesagt hätte: Sprich mit mir! hätte sie sagen können: Mit vollem Mund spricht man nicht. Und schon war
    er in der Assoziationsfalle. Philipp, Rosas Pastor, sprach nur
    mit vollem Mund. Sobald er nicht mehr aß, war er ein stiller,
    in sich gekehrter Mensch. Aß er, sprach er. Und nicht mit vollem, sondern mit vollstem Mund. Er schaufelte Essen in den Mund, bis die Backen platzen wollten, dann sprach er, sprach, als wolle er beweisen, daß er auch mit vollstem Mund sich immer noch verständlich machen konnte. Und
    das konnte er. Das war sogar das Gemeinste, daß er seine radikal dialektische Theologie so mampfend verkündete.
    Und ruderte dabei mit Messer und Gabel wild durch die
    Luft. Gott, kein Kamerad, sondern eine Zumutung. Das war
    seine Verkündigung. Und das im vollsten fränkischen
    Dialekt, als solle auch noch dieser sonst so herbschöne
    Dialekt geschunden werden. Als das zum ersten Mal im
    Hause stattfand, hatte Gottlieb aufstehen und hinausgehen
    müssen. Natürlich so, daß nicht deutlich wurde, warum er ging. Inzwischen stand er, wenn Rosa mit dem Mampfer zu
    Besuch war, nicht mehr auf, aber dabei sitzen bleiben zu 146
    müssen, war jedes Mal eine Nerven aufreibende Anstren‐
    gung. Daß Rosa, die Feinfühligste von allen, ihrem Philipp, wenn er mampfend dialektische Theologie predigte, förmlich
    am Mund hing, konnte er nicht begreifen. Komm zurück!
    Sprechen ist hier im Augenblick nicht angesagt. Mitmachen ist dran. Rise to the occasion. Aber in ihm fragte es sich doch: Ist das jetzt das Kind, das alles in den Mund nimmt, oder die
    amerikanisch gestimmte Frau, die die Rolle spielt, die hier die Frau zu spielen hat? Angenommen, die Frau habe von
    diesem Munddienst weniger als der Mann, dann hieße das,
    in diesem freiheitsberühmten Land hätten es die Männer
    gern, daß die Frauen ihnen etwas leisten, wovon die Frauen
    weniger haben als die Männer. Aber ein Mann hat doch von
    diesem Munddienst auch weniger, als wenn er sein Teil
    dahin bewegt und darin bewegt, wo es hingehört. Das hieße,
    beide haben weniger davon, aber eine Unterwerfung oder
    gar Erniedrigung der Frau wird erlebbar beim Munddienst.
    Für beide. Könnte es dann sein, daß die Frau etwas davon hat, daß sie diesen Dienst tut? Sie hätte dann etwas davon, weil sie ihm etwas zuliebe tut, wovon sie nichts hat. Und er
    hätte als seinen Genuß auch hauptsächlich ihre unterwürfige
    Dienstbarkeit. War er hier bei einem fremden Volksstamm,
    dessen Praktiken er zu studieren hatte? Ist also bei denen hier der Geschlechtsverkehr eine Veranstaltung hauptsächlich zu Gunsten des Mannes? Aber wenn es zu seinem
    Genuß gehört, daß sie auch genießt, muß sie doch auch
    genießen oder, wenn sie das nicht kann, so tun, als genösse sie. Wehe ihr, wenn sie, falls er es genießen will, ihr Genuß zu verschaffen, diesen Genuß nicht zeigen kann. Aber
    vielleicht soll hier die Frau, um den Mann zu steigern, 147
    beweisen, daß sie ihn mehr liebt als sich selbst. Und: daß sie
    ihn mehr liebt als er sich selbst! Das warʹs überhaupt. Da könnte er sich strecken und recken und räkeln, der hiesige Mann. Auf jeden Fall eine Vormachorgie, ein Täuschungs-zirkus. Da träumt man unwillkürlich von etwas Gemein‐
    samem. Daß sich die beiden, was das Dabeisein angeht, nicht
    mehr von einander

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