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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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gedacht, sondern an Ehebruch und dergleichen. Insofern ist der
    Coup, den ein konvertierter Altachtundsechziger hier zu

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    landen versuche, fast schon jenseits des akademisch Tole‐
    rierbaren. Massage gegen Gewissensbisse! Und das via
    Nietzsche! Wer Professor Rosennes Nietzsche‐Vorlesung
    gehört habe, könne einen so unreflektierten Nietzsche‐Ge‐
    brauch nicht ohne Gänsehaut zur Kenntnis nehmen. Sollte er
    in seinem Versuch, die Diskussion zu entfesseln, zu weit gegangen sein, bitte er um Widerlegung dessen, was er
    gesagt habe und was er allerdings unter allen Umständen
    sagen würde. Kräftiger Beifall.
    Das war eine vorbereitete, geplante, vielleicht sogar mit dem Professor abgesprochene Diskussionseröffnung. Gottlieb stand auf, ließ sich, zur Sicherheit, von Beate den Hardy‐
    Text noch einmal zusammenfassen, dann flüsterte er Beate
    ins Ohr und sie sagte es laut auf Englisch weiter: Er sei überrascht. An all das, was Mr. Hardy in seinem Vortrag entdeckt habe, habe er nicht gedacht. Trotzdem seien Mr.
    Hardyʹs Bemerkungen ernst zu nehmen. Für einen Deut‐
    schen ganz besonders. Remords nennt La Mettrie, was
    deutsch Gewissensbisse oder Schuldgefühle heißt, und auf
    Englisch vielleicht bad conscience oder feeling guilty oder self‐reproach. Wie auch immer manʹs übersetze, La Mettries
    Versuch, Schuldgefühle zu demontieren, stehe im Discours sur le Bonheur. Und das ist nicht die witzige Abrechnung mit remords, wie sie die Boulevardkomödie pflegt. Autre religion, autre remords, heißt es da zwar, aber dann wird
    gründlich gefragt, wozu remords überhaupt gut sind. Für
    den Menschen. Für die Gesellschaft. Es geht um die
    Glückseligkeit der Menschheit, die nicht gestört, zerstört werden soll durch nichtsnutzige Schuldgefühle. La Mettrie
    fragt furchtbar nüchtern und vielleicht auch erschreckend

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    sachlich nach dem Nutzen der remords. Sie nützen nichts.
    Sie verhindern nichts. Weder vor, noch während, noch nach
    dem Verbrechen. Von den remords geplagt werden ohnehin
    nicht die Bösen, sondern die Guten. Man kann sagen, er habe
    die Kritik des schlechten Gewissens geschrieben. Diese Kritik
    war für ihn das, was er für die Menschheit tun konnte. Sein
    größtmögliches Verdienst. Also mit Seitensprungerleich‐
    terung darf das nicht abgetan werden. Und jetzt kommt
    einer hierher, der erkannt hat: Wer nur ÜBER La Mettrie schreibt, ohne dabei über sich zu schreiben, der entspricht ihm nicht. Also folgt er dem von Montaigne stammenden,
    durch La Mettrie überbrachten Rat und macht sich selbst, auch sich selbst, zum Thema. Dann erfährt er hier in Kalifornien, daß ein Deutscher immer zuerst ein Deutscher ist und erst dann ein Mensch. Zu Hause ist er zuerst ein
    Mensch, so und so alt und ein Mann. Hier ist er offenbar zuerst ein Deutscher. La Mettrie hat seine Gewissenskritik nicht für eine Gesellschaft geschrieben, die sich gerade in einen Völkermord verstrickt hat. Aber er hätte wahrscheinlich in seiner furchtbaren Nüchternheit, in der Be‐
    schreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten
    vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf
    anders geschrieben. Aber zweifellos kann ein Deutscher
    davon keinen sein Gewissen entlastenden Gebrauch machen.
    Das war auch nicht im mindesten die Absicht des
    Referenten. Obwohl der Sachlage nach nicht ausgeschlossen
    werden kann, daß ein deutscher Referent die La Mettriesche
    Gewissenskritik auf den Fall Deutschland anwenden könnte.
    Vielleicht darf erwähnt werden, daß dem Deutschen
    Gedächtnis zu einem Synonym für Gewissen geworden ist.

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    Der Referent hat sich als einen Gefangenen seines Ge‐
    wissens gesehen und ist nach Kalifornien geflogen, um hier zu bekunden, daß von La Mettrie eine Befreiungskraft
    ausgehe. Und, hat er gedacht, kein Land der Welt eigne sich
    so gut wie Amerika, diese Befreiungskraft zu feiern und
    nicht bloß zu feiern, sondern sie ganz praktisch wirken zu lassen, ganz praktisch, hier und jetzt. Wie das dann aussähe,
    muß jeder Tagungsteilnehmer für sich entscheiden. Dem
    Referenten hätte es genügt, wenn er ein wenig hätte erlebbar
    machen können, wie La Mettrie in sein Leben eingegriffen habe. La Mettrie plus Amerika, das hat sich im Referenten aufgeladen zur Befreiungshoffnung schlechthin. Leider hat
    er dabei einfach übersehen, daß ein Deutscher alles, was er denkt und sagt, zuerst daraufhin überprüfen muß, wie es, von einem Deutschen gesagt, wirkt. Daß

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