Der Augenblick der Liebe
gedacht, sondern an Ehebruch und dergleichen. Insofern ist der
Coup, den ein konvertierter Altachtundsechziger hier zu
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landen versuche, fast schon jenseits des akademisch Tole‐
rierbaren. Massage gegen Gewissensbisse! Und das via
Nietzsche! Wer Professor Rosennes Nietzsche‐Vorlesung
gehört habe, könne einen so unreflektierten Nietzsche‐Ge‐
brauch nicht ohne Gänsehaut zur Kenntnis nehmen. Sollte er
in seinem Versuch, die Diskussion zu entfesseln, zu weit gegangen sein, bitte er um Widerlegung dessen, was er
gesagt habe und was er allerdings unter allen Umständen
sagen würde. Kräftiger Beifall.
Das war eine vorbereitete, geplante, vielleicht sogar mit dem Professor abgesprochene Diskussionseröffnung. Gottlieb stand auf, ließ sich, zur Sicherheit, von Beate den Hardy‐
Text noch einmal zusammenfassen, dann flüsterte er Beate
ins Ohr und sie sagte es laut auf Englisch weiter: Er sei überrascht. An all das, was Mr. Hardy in seinem Vortrag entdeckt habe, habe er nicht gedacht. Trotzdem seien Mr.
Hardyʹs Bemerkungen ernst zu nehmen. Für einen Deut‐
schen ganz besonders. Remords nennt La Mettrie, was
deutsch Gewissensbisse oder Schuldgefühle heißt, und auf
Englisch vielleicht bad conscience oder feeling guilty oder self‐reproach. Wie auch immer manʹs übersetze, La Mettries
Versuch, Schuldgefühle zu demontieren, stehe im Discours sur le Bonheur. Und das ist nicht die witzige Abrechnung mit remords, wie sie die Boulevardkomödie pflegt. Autre religion, autre remords, heißt es da zwar, aber dann wird
gründlich gefragt, wozu remords überhaupt gut sind. Für
den Menschen. Für die Gesellschaft. Es geht um die
Glückseligkeit der Menschheit, die nicht gestört, zerstört werden soll durch nichtsnutzige Schuldgefühle. La Mettrie
fragt furchtbar nüchtern und vielleicht auch erschreckend
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sachlich nach dem Nutzen der remords. Sie nützen nichts.
Sie verhindern nichts. Weder vor, noch während, noch nach
dem Verbrechen. Von den remords geplagt werden ohnehin
nicht die Bösen, sondern die Guten. Man kann sagen, er habe
die Kritik des schlechten Gewissens geschrieben. Diese Kritik
war für ihn das, was er für die Menschheit tun konnte. Sein
größtmögliches Verdienst. Also mit Seitensprungerleich‐
terung darf das nicht abgetan werden. Und jetzt kommt
einer hierher, der erkannt hat: Wer nur ÜBER La Mettrie schreibt, ohne dabei über sich zu schreiben, der entspricht ihm nicht. Also folgt er dem von Montaigne stammenden,
durch La Mettrie überbrachten Rat und macht sich selbst, auch sich selbst, zum Thema. Dann erfährt er hier in Kalifornien, daß ein Deutscher immer zuerst ein Deutscher ist und erst dann ein Mensch. Zu Hause ist er zuerst ein
Mensch, so und so alt und ein Mann. Hier ist er offenbar zuerst ein Deutscher. La Mettrie hat seine Gewissenskritik nicht für eine Gesellschaft geschrieben, die sich gerade in einen Völkermord verstrickt hat. Aber er hätte wahrscheinlich in seiner furchtbaren Nüchternheit, in der Be‐
schreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten
vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf
anders geschrieben. Aber zweifellos kann ein Deutscher
davon keinen sein Gewissen entlastenden Gebrauch machen.
Das war auch nicht im mindesten die Absicht des
Referenten. Obwohl der Sachlage nach nicht ausgeschlossen
werden kann, daß ein deutscher Referent die La Mettriesche
Gewissenskritik auf den Fall Deutschland anwenden könnte.
Vielleicht darf erwähnt werden, daß dem Deutschen
Gedächtnis zu einem Synonym für Gewissen geworden ist.
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Der Referent hat sich als einen Gefangenen seines Ge‐
wissens gesehen und ist nach Kalifornien geflogen, um hier zu bekunden, daß von La Mettrie eine Befreiungskraft
ausgehe. Und, hat er gedacht, kein Land der Welt eigne sich
so gut wie Amerika, diese Befreiungskraft zu feiern und
nicht bloß zu feiern, sondern sie ganz praktisch wirken zu lassen, ganz praktisch, hier und jetzt. Wie das dann aussähe,
muß jeder Tagungsteilnehmer für sich entscheiden. Dem
Referenten hätte es genügt, wenn er ein wenig hätte erlebbar
machen können, wie La Mettrie in sein Leben eingegriffen habe. La Mettrie plus Amerika, das hat sich im Referenten aufgeladen zur Befreiungshoffnung schlechthin. Leider hat
er dabei einfach übersehen, daß ein Deutscher alles, was er denkt und sagt, zuerst daraufhin überprüfen muß, wie es, von einem Deutschen gesagt, wirkt. Daß
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