Der Augenblick der Liebe
fehlt, warum sollte er dann anrufen! Wenn
sie also nichts mehr hört von ihm, weiß sie, es geht ihm besser. Machʹs gut. Du furchtbarer Mensch. Sie wäre ihm
dankbar, wenn er, weil er doch so schlau ist, wenn er ihr erklären könnte, warum sie ihn noch hebt. Das ist ein Leiden,
gegen das sie immer noch kein Mittel gefunden hat. Aber Wintersulgen hat geklappt. Droben, hinter Heiligenberg.
Weißt du noch? Im Winter, wir beim Langlauf im
verschneiten Gelände, dann plötzlich quer über den sanften
Hügel das Rudel Wildschweine, und wir standen und
schauten zu, wie die durch den Schnee stoben. Wir müssen 171
da ziemlich fromm ausgesehen haben. Adieu. Gottlieb
konnte gerade noch Adieu krächzen, dann legte sie auf.
5.
Sie rief an wie aus dem Grab. Und auch noch so, als hörten
die Toten gierig mit, sie müsse also ganz leise sprechen. In zehn Minuten kommt sie mit dem Taxi, er soll, bitte, dann schon unten sein, vor dem Hotel. Also ins Krankenhaus.
Der Arzt, der alles schon wußte, plauderte aus seiner
Geschichte, was jetzt paßte. Wievielen Tenören er schon
geholfen hatte. Aber zuerst mußte Gottlieb sich ausziehen, seine Kleider auf einen Bügel hängen, der auch die Schuhe aufnehmen konnte, mußte in einen grünlichen Pa-tientenkittel schlüpfen und in ebensolche Hosen, ums
Handgelenk kriegte er ein Bändchen, an dem ein Schildchen
mit seinem Namen hing. Der Arzt, der die ankommenden
Patienten auf die dafür geeigneten Ärzte verteilte, wollte selber einmal Sänger werden, plauderte über Bei Canto-Technik und war ganz sicher, daß er für den stimmlosen
Herrn aus Deutschland den richtigen Doktor im Haus habe.
Sie sollten sich entspannen, beide. Bis gleich.
Beate hatte begriffen, daß das die Vorbereitung war für
einen stationären Aufenthalt. Sie eroberte die Kleidung
zurück, Gottlieb mußte sich sofort umziehen, sie entkamen, bevor der Verteiler zurück war. Und Beate hatte aus einem jungen vorbeikommenden Arzt auch noch einen HNO‐Arzt
herausgefragt. In Berkeley. Dr. Matusaka. Ein Japaner. Beate
bezahlte das Taxi, drückte die siebte Etage, verhandelte mit 172
dem Empfangsmädchen, sie sollten sich setzen. Es waren
gerade noch zwei Stühle frei. Allerdings zwei schöne Stühle.
Weiß, und geschwungen und geknickt, dann wieder gerade.
Es war eng. Gottlieb schobʹs auf die Quadratmeterpreise. Er
und Beate würden unter solchen Umständen nicht sprechen.
Aber Beate suchte seine Hand. Niemand sagte etwas, nur das
Mädchen mit dem verbundenen Ohr. Sie sprach ungeniert
laut. We have seen Indian houses. Totems. Seals floating on
icebergs. Dolphins. Mating. All exciting. Was für eine
Sprache! Dolphins. Mating. Dieses Mädchen war so beson‐
ders, wie die Frau, der sie erzählte, gewöhnlich war. Miche‐
langelo hätte aus diesem großäugigen, schlaksigen, lang‐
gliedriegen Ding einen unsterblichen Buben gemacht. Aber,
dachte Gottlieb, das wäre schade um dieses Mädchen. Wie
beschränkt ist das Leben. Dolphins. Mating. Und nie wirst du mit diesem Mädchen auf der hier üblichen Holzveranda
sitzen, nie mit ihr durch die Eukalyptuswälder traben ...
Beate signalisierte an seiner Hand, daß sie auch noch da sei.
Also löste er seinen Blick von diesem langen Hals und dem
halblangen Haargewell. Zum Glück wurde sie jetzt hin‐
eingerufen. Catherine. Und wie sie hineinging. Drei Schritte.
Aber die wie auf einem Sandstrand. Als sinke sie bei jedem
Schritt ein und müsse sich dann hochstemmen, strecken. Als
sie wieder herauskam, ging sie, alle grüßend, hinaus. Gottlieb durfte sich auch gegrüßt fühlen. Dann wurden, obwohl
sie noch nicht dran waren, er und Beate hineingerufen.
Dr. Matusakas Sprechzimmer war eine überfüllte Kabine.
Der Doktor war entsprechend klein und zart und leise. Eine
Art Astronautensitz nahm Gottlieb auf. Dr. Matusaka dik‐
tierte, was er feststellte, in ein Mikrophon, das er als schwar‐
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zen Knopf an seinem eierschalenfarbenen Mäntelchen trug.
Als er dem Mikrophon alles gesagt hatte, sagte er alles noch
einmal in unärztlichem Englisch. Und immer sprach er auch
zu Beate, weil er gemerkt hatte, daß sie ohnehin dem
Patienten nachher alles noch einmal in seiner Sprache sagen
mußte. Daß der Patient über seine Stimmbänder so gut wie nichts wußte, hatte er sofort erkannt. Also: Eine adoptive Asymmetrie des linken Stimmbandknorpels und eine inkom-plette Lähmung der linken Stimmbandlippe. Vielleicht sind
von einer Grippe
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