Der Augenblick der Liebe
der Referent diese Selbstüberprüfung versäumt hat, war ein furchtbarer Fehler.
Den bedauert er sehr. Er hätte bedenken müssen, daß er im
Ausland spricht. In den USA! Er bittet die Versammlung um
Entschuldigung. Und er hofft, er habe gelernt, spät genug ge‐
lernt, aber doch noch gelernt, er als Deutscher, vor allem im
Ausland, hat immer daran zu denken, daß er zuerst ein
Deutscher ist und erst dann, falls sein Ein‐Deutscher‐sein das
noch zuläßt, erst dann ein Mensch.
Eher zaghafter, aber aus ein paar hinteren Reihen dann
doch deutlicher Beifall. Gottlieb schaute nicht hin. Er bedankte sich, immer noch flüsternd, bei seiner Übersetzerin.
Das ergab einen allgemeinen, sogar heftigen Beifall. Beate verneigte sich. Rick Hardy, der während Gottliebs Erwi-derung deutlich geduldig auf dem Podium stehen geblieben
war, übernahm die Leitung der jetzt einsetzenden Diskus‐
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sion. Gottlieb setzte sich auf seinen Platz, Beate auf ihren.
Gottlieb konnte nicht mehr folgen. Er kriegte mit, daß hinten
ein paar Frauenstimmen für ihn sprachen und daß die
Mehrheit dann diese Sympathisantinnen eines Besseren zu
belehren suchte: moralisch, politisch, philosophisch. Es ging
um die Wörter. Guilt, debt, self‐reproach, bad conscience, hypocrisy. Gottlieb war nicht mehr gefragt, das kriegte er mit. Denen, die ihn verteidigen wollten, konnte er nicht helfen. Beate beteiligte sich auch nicht. Seine Verteidi-erinnen, das hörte er, ohne sich umzudrehen, mußten ältere
Damen sein; eine wies darauf hin, daß sie aus einer Familie
von Holocaustüberlebenden stamme. Es wurde ihr gesagt, es
sei ihre Sache, ganz und gar ihre Privatsache, wenn sie sich mit einem deutschen Entlastungsmanöver dieser Art
befreunden könne, kein Mensch könne ihr daraus einen
Vorwurf machen, solange sie nicht versuche, ihrer Privat‐
sache universale Gültigkeit zu erstreiten. Rick Hardy hatte so
gut wie nichts mehr zu tun, so gut lief die Diskussion. Dann
und wann mußte er sagen: Keep your remarks brief, und
schließlich: Die Kaffeepause sei ein MUST, also noch eine letzte Wortmeldung. Die kam von Patricia Best. Sie stand auf, sprach ebenso zu Gottlieb wie zum Saal. Die kleine, eher
rundliche Person wuchs mit jedem Wort. Sie wuchs wirklich.
Sie sprach nicht einmal besonders laut. Mußte sie auch nicht.
Ihre hohe, eigentlich sehr hohe Stimme schwebte über dem ganzen Saal. Das sah man. Gottlieb hatte tatsächlich den Eindruck, als wüchsen auch die Zuhörer. Alle Hälse wurden
lang, alle Köpfe hoben sich. I liked your speech. So begann sie. Dann sagte sie, daß auch heute noch das Gewissen eines
jeden Menschen von der Religion gebildet werde, in der er 167
aufwachse. Das Gewissen sei das Kostbarste, was unsere
Kindheit in jedem von uns lebendig erhalte. Und, bitte, der Atheismus sei ja nichts anderes als eine Religion, die sich zutraue, ohne Gott auszukommen. Tatsächlich sei jede
praktizierte, gar herrschende Religion in Gefahr, das
kostbare Kindheitsgut Gewissen zur Rezeptur verkommen
zu lassen. Daß die Philosophie darauf kritisch zu reagieren habe, verstehe sich inzwischen von selbst. La Mettrie habe das getan. Einzigartig. Großartig. Nachträglich seiner
Gewissenskritik Reservate anzuweisen, in denen allein sie
angewendet werden dürfe, komme ihr vor wie freiwillige
Kurzsichtigkeit, die gebe es aber in der Natur nicht, und die
Wissenschaft sollte nicht versuchen, gerade darin die Natur zu korrigieren. Dann wolle sie, müsse und könne sie dem Herrn Referenten versichern, daß das Problem der
Transzendenz vom Deutschen zum Menschen ganz und gar
nicht nur sein Problem ist. Solange es noch Nationen gibt, und es wird sie ganz sicher nicht ewig geben, muß es und wird es diese Einladung zur Überwindung des nur Angebo-renen geben. Die herzliche Theatralik mit der der Referent den Emanzipationskitzel vor uns ausgelebt hat, hat mich
gerührt.
Aus verschiedenen Saalquartieren heftiger Beifall. Aber da
und dort gab es auch Zischen.
Rick Hardy übernahm: Er sei immer wieder glücklich,
wenn er Patricia Best in ihrer sibyllinischen Laune erlebe.
Und lachte. Vielen Dank, Patricia!
Jetzt Professor Rosenne. Er sei auch glücklich über diesen Anfang der Tagung. Daß La Mettrie immer noch ein Unruhe-stifter sei, mache ihn glücklich. Gestern Abend habe er
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drüben in San Francisco in Chinatown Abend gegessen. Die
Chinesen lieferten ja zu jedem Dinner ein Cookie, ein fortune
Cookie, das man,
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