Der Augenblick der Liebe
Toxine zurückgeblieben, vergiftete Eiweiß‐
stoffe, und haben den langen Stimmbandnerv angegriffen.
Vielleicht war eine Verletzung die Ursache. Der Stimmband‐
nerv, Recurrens genannt, sei mehr oder weniger funktions‐
unfähig. Dieser Nerv reicht vom Kopf herab und um das
Herz herum; das Embryo hat das Herz noch im Hals, dann senkt sich das Herz und nimmt den Recurrensnerv mit. Der
geht dann um das Herz, um die Aorta, um die Speiseröhre herum, bis er den Muskel des Stimmbands bedient. Für eine
Lähmung oder Teilweiselähmung kann es viele Ursachen
geben: von einer Schilddrüsenvergrößerung bis zum Carci‐
nom. Was tun ? Antibiotika auf jeden Fall. Eine Thoraxrönt‐
gung auch auf jeden Fall. Eine Computertomographie auch.
An der Universitätsklinik hat ein Professor ein Verfahren entwickelt, das es ermöglicht, in den Stimmbandmuskel
einen Sender einzusetzen, der genau meldet, wieviel das
Stimmband noch bringt. Dr. Matusaka hält das hier nicht für
nötig. Das rechte Stimmband des Patienten ist erstaunlich gut trainiert, es kommt mit seinen Schwingungen bis an das
linke hin. Aber natürlich sind, um die Carzinomvariante zu klären, Aufnahmen, Röntgen und Tomographie, unerläßlich.
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Und sofort Antibiotika, um die möglicherweise von einer
Virusgrippe verursachte Sekundärinfektion zu stoppen. Der
Patient soll jetzt nicht nichts reden. Er soll sich um Gottes willen jetzt nicht aufs Flüstern reduzieren. Weder brüllen noch flüstern. Einfach reden. Er, Dr. Matusaka, habe unter seinen Patienten einen Pfarrer, der an ähnlichen Beschwer-den leide, der sich aber jede Aufklärung über seine Symp-tome verbiete. Er will darüber nichts hören. Er tritt für seine
Kirche dreimal pro Woche im Fernsehen auf. Vor jedem
Auftritt läßt er sich eine leichte Strychninspritze geben, die tonisiert dann die Stimmbänder so, daß sie ein paar Stunden
funktionieren.
Gottlieb war sicher, daß der Arzt von dem bärtigen Geld-forderer mit der schief sitzenden Mütze sprach.
Mr. Krall, sagte der Arzt, muß um eine rasche und vollkommene Aufklärung bemüht sein. Er, Dr. Matusaka, kann
das organisieren. Seine Diagnose bis dahin: eine idiopathische, kryptogenetische Recurrensparese. Beate sagte, das
müßten sie und ihr Freund erst einmal verdauen. In Gottlieb
war inzwischen ein solches Zutrauen zu diesem zarten
Japaner gewachsen, daß es ihn richtig schmerzte, sich jetzt einfach und für immer verabschieden zu müssen. Der gab
noch den Rat, einen halben Ton tiefer zu sprechen, sich das anzugewöhnen, immer einen halben Ton tiefer, und er
werde sich wundern, wie heilsam das sei. Wir sprächen ja alle andauernd viel zu hoch. Und lächelte. Gott‐lieb hatte sofort das Gefühl, dieser Rat sei überhaupt das Wichtigste gewesen. Draußen bezahlte er die bescheidene Rechnung.
Das Mädchen am Computer druckte, was der Doktor
verschrieben hatte, aus und überreichte Beate das Rezept.
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Als sie unten auf der Straße waren, bat Gottlieb, Beate möge Passanten nach einem Gemüsesupermarkt fragen.
Dazu das Geständnis, daß er Anna angerufen habe. Dazu das
Geständnis, daß sich Anna schon vor zehn Jahren zur
Heilpraktikerin habe ausbilden lassen, die Prüfung gemacht
habe, aber nicht praktiziere. Sie sei einfach neugierig gewesen, habe das Gefühl gehabt, in der Schule das Wichtigste
nicht erfahren zu haben. Sie werde inzwischen von immer
mehr Leuten um Rat gefragt. Irgendwann werde sie dafür
Honorar nehmen. Der Immobilienhandel profitiere von der
Naturheilkunde. Das ist Annas Begabung: zu entdecken, wie
Immobilienhandel und Naturheilkunde zusammenpassen.
Jeder zweite Kunde ist krank, sagt Anna. Koliken, Magen‐
bluten, Blutspucken, kommt alles vom Penicillin. Und ohne vorherige Auspendelung der Wasseradern, der Kreuzungs-quadrate, der Globalgitter und der Diagonalgitter und der Hartmann‐Strahlen übernehme Anna sowieso keinen
Auftrag mehr. Jetzt also eine Nacht mit Krautwickel. Das habe Anna, sagte Beate, gegen sie verordnet. Daß er und sie
nicht mit einander schlafen können. Eine Nacht weniger. Er
mußte Beate aufklären, daß sie wenigstens ahne, wer Anna auch noch ist: Anna hat irgendwann gemerkt, daß sie durch
die Schwächen ihres Privatgelehrten genötigt worden war,
den Immobilienhandel ernst zu nehmen. Und als das passiert
war, ist in ihr per Dialektik die Rettungskraft erwacht und gewachsen: die Naturheilkunde. Völkle und Krezdorn, das
sind ihre
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