Der Augenblick der Liebe
brin‐
ge, sei nicht seine Normalform, sondern das Ergebnis eines fast schon epochalen Staus. Also eine Ausschüttung von
Angespartem, aber dann Hochverzinstem.
Diese Mitteilung war auch eine Folge ihrer Mitteilung über
Schwitzhände und kalte Füße. Er hatte zwar ihre Mitteilung
stürmisch begrüßt, aber ihm selber war der Eifer, mit dem er
die Begeisterung über soviel Offenheit ist gleich Nähe
produziert hatte, verdächtig. Er hatte den Schrecken nieder‐
reden müssen, den ihre Mitteilung auch bewirkt hatte.
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Wirklich nicht nur Schrecken. Sie lag inzwischen daumen‐
lutschend an ihm. Wie hätte er da nicht an Regina denken müssen! Und sagen mußte er ihr das auch. Auf Regina, die zwei Jahre jünger war als sie, war sie nicht eifersüchtig. Er brauchte jetzt das Reginaleben. Er floh ins Reginaschicksal.
Von Julia wußte Beate soviel, von Regina so gut wie nichts.
Du kannst ruhig weiter daumenlutschen. Regina hat von
allen seinen Kindern am längsten und heftigsten daumen‐
gelutscht. Jetzt ernährt sie einen Künstler, einen Bildhauer, der sich weigert, Aufträge anzunehmen. Für ihn wäre das
Prostitution. Er formt nur Kugeln, setzt alles, was er macht, aus Kugeln zusammen. Menschen, Pferde, Wale, Geier oder
Ideen, er kann alles aus Kugeln bilden. Er nennt sich:
mystischer Bildhauer und Sphärist. Eines Tages wird die
Welt sein Atelier stürmen und ihm alles aus den Händen
reißen, bevor es fertig ist. Bis dahin muß Regina ihn
ernähren. In einer Agentur für Zirkusartisten arbeitet sie.
Und das in Wien. Am Telephon klingt sie, als mache es
nichts als Spaß, ein Genie zu ernähren. Er hält es für eine Auszeichnung, ihn ernähren zu dürfen. Und Regina fühlt
sich ausgezeichnet. Der Sphärismus wird für eine noch nicht
absehbare Zeit die Kunstszene beherrschen. Die Kugel ist
nun einmal das einzige Vollkommene überhaupt, Leben
konnte nur auf einer Kugel entstehen, Uwe Seeler hat es goldrichtig formuliert: Das Geheimnis des Fußballs ist ja der
Ball. Gottlieb hatte dem Sphäristen einmal einen Abend lang
zugehört, seitdem begriff er, warum Regina bereit war, ihr Leben im Leben des Sphäristen beziehungsweise im
Sphärismus auf‐ oder vielleicht auch untergehen zu lassen.
Die Unbedingtheit, mit der der an sich glaubte. Nein, nicht 185
an sich, sondern an den Sphärismus. Er ist nur das
Werkzeug. Das Unbedingte wirkt. Ohne Inhaltskram. Regina
sagt, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wird: Himmel‐
stürmerin. Rosa hat Theologie studiert, Magda Mehrwert‐
steuer, Julia Japanisch. Errungen wurden ein Sphärist, ein Pastor, ein fahnenflüchtiger US‐Farbiger und einer, der außer
Alkohol alles verweigert. Als er merkte, daß Beate eingeschlafen war, konnte er aufhören.
6.
Das hat sie geschafft. Sie hat ihn und sich von Berkeley nach
Chapel Hill in die Rosemary Street gebracht, ohne daß sie von einem anderen La Mettrie‐Menschen gesehen
worden sind. Sie hat geglüht vor logistischer Konzentra‐
tion. Gesehen zu werden mit ihm wäre für sie sozusagen
tödlich. Sie flöge aus dem Ph.D.‐Programm, verlöre ihre
sowieso andauernd gefährdete Lehrstelle und so weiter.
Jetzt, nachdem er als deutscher Schuldleugner entlarvt ist, erst recht.
Als sie in ihrem Einzimmer‐Apartment die Türe hinter sich
zugemacht hatten, ließ sich Beate auf ihr hellbeiges Sofa, das
von einer Mörderin gekaufte, fallen und sagte: Dich vor
hundert Jahren durch ein Indianergebiet zu bringen wäre
sicher ein Kinderspiel gewesen dagegen. In welche Risiken sie seinetwegen geriet! Und? Fühlt er sich jetzt, bitte, daheim
hier? Und das sofort, bitte! Und ganz und gar! Schau, das ist
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Schwesterlein Bettina. Die, die den besseren Namen erwischt
hat. Aber sie werde jetzt über Beate J. allmählich zu Juliette B. übergehen. Aber das erst nach der Diss, oder mit der Diss.
Bettina am Hochzeitstag. Die schönste Verlegenheit der Welt,
der Gesichtsausdruck auf dem Hochzeitsbild. Wann heiraten
wir, Sylvandre? Der ostwestfälische Samenhändler, jetzt
Progammierer bei Star Money, Hamburg, schaut, verglichen mit Bettinchen, ganz plattplanfrech in die Welt. Hallo!!
Gottlieb nickte so eifrig, wie er immer nickte, wenn er mehr
Eifer zeigen mußte, als er hatte. Daß er das blaue Cordhemd
nicht mitgebracht habe, bleibe unverzeihlich. Und sah ihn theatralisch kritisch an. Graduate Studentin erschießt deutschen Referenten, sagte sie in der Tonart, in der sie immer ihre
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