Der Augenblick der Liebe
weiter.
Wie ihr jetzt offenbaren, daß er den Rückflug auf den
nächsten Tag vorverlegt hatte?! Irgendwann, als sie gegessen
und getrunken hatten und aneinandergeschmiegt lagen, fing
er an, über Rick Hardy zu staunen. Lobte ihn. Eine CIA‐reife
Leistung. Und was sie, Beate, betreffe, bitte, sie könne doch froh sein, daß sie diesen Dr. Douglas los sei. Wahrscheinlich
sei Beate jetzt eifersüchtig. Mit diesem therapeutischen
Beischlaf habe Dr. Douglas auch Beate betrogen. Da sprang sie auf, nannte das einen absurden beziehungsweise typisch
männlichen Kommentar. Wie und wo sie diese Nachricht
getroffen habe, wisse sie selber noch nicht. Wie bei einem Todesfall werde sie wahrscheinlich erst im Lauf der Zeit den
Verlust empfinden. Da konnte er sagen − und daß er das sagen konnte, wunderte ihn selbst −, daß er das leider nicht
mehr miterleben dürfe. Sie schaute erschreckt. Er hielt ihr sofort die Augen zu und sagte: Ja, umgebucht, noch einmal,
morgen. Sie riß sich los, warf sich in die andere Sofaecke, zog
die Beine an, umfaßte ihre Knie und legte den Kopf auf ihre
Knie. Gottlieb fiel die kauernd schlafende Magda ein, von Anna geheilt. Beate weinte nicht, sagte nichts, rührte sich nicht. Einmal ein Wort: Verstoßen. Und irgendwann zwei
Wörter: Nie mehr. Auf dem Sofatisch lag ein dickes
Ringbuch: The Graduate School. Darunter: The University of 200
North Carolina at Chapel Hill. Das hatte sie offenbar mitgebracht. Er hätte gern darin geblättert, gelesen, aber er wußte,
daß er sich nicht rühren durfte, bevor sie sich nicht rührte.
Nicht rühren durfte oder nicht rühren konnte? Um seiner
menschlichen Zurechnungsfähigkeit willen entschied er sich
für: nicht rühren konnte. Solange du dich nicht für einen guten Menschen hältst, ist dir nichts vorzuwerfen. In a clear,
firm voice: I abused the System I believed in and I will never
forgive myself. Dann ist ja alles gut. Schuldgefühl, bitte. Freie moralische Marktwirtschaft. Oh Gottlieb. Oh Wendelin. Oh
Zürn. Oh Krall. Krümme dich, bis du dich wohlfühlst.
Sie rührte sich zuerst. Sie mußte aufs Klo. Sie tat das, was
sie pinkeln nannte, bei offener Tür. Was zu hören war, klang
tröstlich. In ihm buchstabierte es sich so: Die Sehnsucht, heimzukommen, scheint größer zu sein als die Sehnsucht,
von daheim fortzukommen. Real Estate könnte man auch übersetzen mit Der wirkliche Stand.
Daß er sich nicht von ihr im rührend alten Pontiac zum Flughafen fahren ließ, deutete sie so: Er habe Angst, der Pontiac sei auf ihrer Seite, werde also die fünfzehn Meilen zwar angehen, dann aber plötzlich streiken, daß Herr Zürn das Flugzeug versäume. Er sagte, das sei die fast poetische Deutung einer eher realen Möglichkeit. Das letzte, was sie, als das Taxi schon wartete, sagte, war: Nie mehr. Das
verspreche ich mir. Nie mehr.
Er sagte: Viel Glück bei La Mettrie. Sie bohrte ihr Zei-gefingerchen an die Schläfe und drehte sich weg. Drehte sich
wieder her und sagte: Die Diss geschmissen, auf die Diss geschissen, adieu, Herr Dr. Zürn.
201
Im Taxi beschäftigte ihn eine Utopie: Nach der Geburt eines
Menschen wird das Datum in einer Datei gespeichert, die
durch einen PIN‐Code zugänglich ist, der nur den Eltern
bekannt ist. Sie können ihn dem Kind weitergeben oder
nicht. Sie können das Kind von Anfang an ohne
Zahlengerüst aufwachsen lassen.
Der Wechsel der Luftlinie wurde nicht nur teuer, sondern auch schwierig. Die Deskdame in Washington‐Dulles, die
ihn endorsen sollte, wollte davon abschrecken mit dem
Hinweis, das Gepäck könne, wenn er jetzt mit einer anderen
Gesellschaft fliege, vielleicht zurückbleiben. Un‐identifi‐
ziertes Gepäck werde nicht befördert. Bei all den Terroristen.
Aber er gab nicht nach. Sie mußte telephonieren, bis alles okay war. Er zahlte und zahlte und freute sich, als der Kapitän sagte, daß sie mit Rückenwind flögen. Extraservice:
Manhattan bei Nacht. Der Kapitän: Seit Monaten kein so
schöner Nachtflug. Die Avenues und die querlaufenden
Straßen ergaben eine genaue Goldgeometrie. Manhattan ist
ein Goldkäfig, in dem Schwärze gefangen gehalten wird.
Bevor er müde wurde, schaute er noch frühe Anna‐Bilder
an, die er immer dabei hatte, aber fast nie mehr anschaute.
Anna vor so vielen Jahren. Daß sie so schön war, hatte er, als
sie noch so schön gewesen war, nicht bemerkt. Da Schönheit
immer hieß, denen zu ähneln, die gerade als schön gehandelt
werden,
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