Der Augenblick der Liebe
dringend, da wollte sie nicht so sein, nicht so verschränkt oder gar abweisend, sondern durchaus mitmachend. Eine Frau eben, die ihren Mann, den sie kennt, bedient wie der Friseur einen alten Kunden. Anna will es doch überhaupt nicht, sie will nur, daß du es willst. Das Eheverhältnis schlechthin. Anna noch die bestmögliche Frau. Aber auch die Bestmögliche lahmt dann. Die Währung, in der bezahlt wird, heißt dann Lüge. Gottlieb spürte eine alles ergreifende Erbitterung wachsen. Geschlechtsverkehr! Ein solches Wort serviert einem diese sogenannte Kultur. Für das Höchste, wozu man im Stande ist, für die Handlung, die einen so zu sich selber kommen läßt wie keine andere, dienen sie einem ein Wort an, das in einer Behörde konstruiert worden sein muß. Den Beamten ist kein Vorwurf zu machen. Die konnten ja nicht wissen, daß das Wort über den Gesetztext hinaus verwendet werden würde, weil die Menschen, sittlich eingeschüchtert, zu keinem Ausdruck, zu keinem Wort finden würden, das von dem Vorgang zu zeugen vermöchte. Funktionäre der Fortpflanzung a. D. So sah er sich und Anna alltäglich. Er selber ein kleiner braver Beamter im Geschlechtsdienst, immer gründlich in Vorbereitung und Ausführung. Einmal hat er denken müssen, daß Anna plötzlich lachen könnte und daß er sie dann töten müßte. Gottlieb war bereit, allen Trübsinn, alle Weltverneinung, überhaupt alles Ungute, zurückzuführen auf den Mangel an freier Freude am Geschlechtlichen.
Das Telephon läutete. Verwählt. Gottlieb fluchte laut. Es hätte Beate sein können. Dann: Verwählt! Sich zu verwählen gehörte verboten. Was fiel den Leuten ein, sich zu verwählen. Das hätte doch wirklich Beate sein können! Sie hätte, wie vor Monaten, gesagt: 98 Grad und eine Luft aus feuchten Schwaden. Dann hätte er gefragt: Was trägt man? Und sie: Ein blaues Laken. Er hätte geseufzt, also hätte sie gesagt: Das Laken ist erfunden. Sie sei nackt und einiger maßen bedürftig, schamlos nackt zu sein. Er darauf: Und das in einem Zeitalter ohne Bildtelephon. Spätere Zeiten wüßten überhaupt nicht, was das für ein Askesemurks gewesen sei, leben, lieben, ohne Bildtelephon. Sie: Andererseits könnte ihn das doch sprachlich beflügeln. Er gab ihr recht und beflügelte sich. Und durfte nicht anrufen. Vierzehn Tage und Nächte lang. In der Hoffnung, sie rufe an oder seine Bedürf tigkeit lasse nach. Am meisten leide sie, hatte sie einmal am Telephon gesagt, an der Ungleichzeitigkeit. Bei ihm ist es Nacht, bei ihr überhaupt nicht. Das tat ihr weh. Stell dir vor, unsere Sinne, unser La Mettrie, und dann sechs Stunden Differenz! Er hätte sie am liebsten aus dem Hörer gesogen. Jetzt spürte er, daß er jeden Halt verlieren würde, wenn er nicht bald gegensteuerte. Aber wo und wann war der letzte feste Punkt gewesen, von dem aus er noch hätte gegen steuern können? Es war ein Daraufzutreiben, keine Gegen steuerung möglich. Der Grad der Unbeeinflußbarkeit ist erreicht. Das Alter ist das Gegenteil der Verfeinerung, die einem abverlangt wird. Ruchlos. So fühlt er sich. Endlich. Er wird den Anruf des Lebens nicht ein zweites Mal versäumen. In Amerika muß er taub gewesen sein. Er hatte den letzten Zug versäumt. Wo sollte er jetzt die Nacht verbringen. Je weniger Leben dir zusteht, desto heftiger reißt du es an dich. Das ist das Gesetz. Des Lebens.
So lag er dann wieder neben Anna im vertrauten Dunkel und fühlte das geträumte Unding wachsen, spürte eine offenbar nicht enden wollende Festigung und rührte sich nicht. Welchen
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