Der Augenblick der Liebe
sehen, in der Bar des InselHotels in Konstanz. Er sei noch immer der Säuglingsgreis, der er immer gewesen sei, ge spenstisch jung. Und immer noch der wimpernlose Blick dieser sich nur ruckartig bewegen könnenden Augen. Lizard, dachte Gottlieb, Glen O. Rosenne. Und die gelben Haare noch genau so gelb wie früher und keines fehle.
Zum Glück kam dann Dr. Reinhold vom SchachComputer und meldete wie immer, der Computer habe gesagt: I lose. Aber Dr. Reinhold meldete nicht mehr wie früher, in welchem Schwierigkeitsgrad er den Computer besiegt hatte. Dr. Reinhold war fleischiger geworden. Sein Gesicht war sozusagen über die Ufer getreten, weiche milchweiße Backen flössen links und rechts vom zart gebliebenen Kinn abwärts. Die Augen schwammen auf tiefhängenden Säcken. Aber er war immer noch der stille hebe Mensch, der alle durch seine Zurückhaltung beschämte. So hatte es Gottlieb immer empfunden. Besonders in den Jahren, in denen sich Lissi noch von ihrem bernhardinerhaften Soziologen Giselher hatte bedienen lassen. Der war längst Professor in Frankfurt. Dr. Reinhold nahm sich Häppchen von den Platten und aß, wie er immer gegessen hatte, nämlich nur mit vier Zähnen, oben zwei und unten zwei, mit diesen Frontzähnen zerklei nerte er alles, was er in den Mund schob, ganz schnell. Lissi war inzwischen beim Thema Scheidung. Die Scheidungen nähmen, sagte sie, so zu, daß man von einer Scheidungs epidemie sprechen könne. Wohin du kommst, überall lassen sich die Leute scheiden, rief sie. Und nicht nur in Stuttgart und Karlsruhe, nein, auch in den kleinsten Dörfern, und mit sechsundzwanzig genau so so wie mit zweiundsechzig. Sie geriet richtig ins Schwärmen. Gottlieb nickte so nachdenklich wie möglich. Anna machte ein kritisch zweifelndes Gesicht.
Auf der Heimfahrt dachte Gottlieb, Anna erwarte von ihm jetzt eine Stellungnahme entweder zum Thema Altersgeilheit oder zum Thema Scheidung. Für ihn war geil eines jener Wörter, die in der Zeit, als er allmählich von Wörtern besetzt wurde, bei ihm nicht vorgekommen waren. Bis es bei ihm auftauchte, hatte er für das, was geil sagen sollte, längst andere, halbwegs brauchbare Wörter. Also wirkte geil auf ihn eher wie ein Fremdwort. Man weiß genau, was gemeint ist, aber man spürt nichts. Eines der Kunststoffwörter. Ähnlich wie Fan. Keinesfalls konnte er Anna oder irgendeinem Menschen sonst sagen, was er, wenn er dieses Wort jetzt auf sich anwendete, empfand. Geil, das war doch in jedem Alter die Stimmung, die nicht heraus durfte. Das war doch immer nur unter besonders gesegneten Umständen erlaubt gewe sen. Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästhetischsittlich drapieren. Es schickt sich nicht nur nicht, es ist ekelhaft, alt und geil zu sein, das haben die Damen in ihrem SchatzKaltammer Disput verkündet. Gründe haben sie nicht genannt. Das ist einfach so. Inter omnes constat. Basta. Und weil das so ist, weiß Gottlieb, daß er, was bei ihm altersgeil genannt werden konnte oder mußte, zu verbergen hatte, so wie er als Fünf zehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es gab Damen und Herren im Ächtungsdienst für jedes Alter. Dabei war das Wort bei ihm nie vorgekommen. Ja, eine jetzt offenbar als verworfen zu bezeichnende Kundin hatte das Wort einmal in der dafür günstigen Situation gebraucht. Laß uns geil sein wie die Inder, hatte sie, rheinisch
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