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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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sehen,  in  der  Bar  des  InselHotels  in  Konstanz.  Er  sei  noch  immer  der  Säuglingsgreis,  der  er  immer  gewesen  sei,  ge spenstisch  jung.  Und  immer  noch  der  wimpernlose  Blick  dieser  sich  nur  ruckartig  bewegen  könnenden  Augen.  Lizard,  dachte  Gottlieb,  Glen  O.  Rosenne.  Und  die  gelben  Haare noch genau so gelb wie früher und keines fehle. 
Zum Glück kam dann Dr. Reinhold vom SchachComputer  und  meldete  wie  immer,  der  Computer  habe  gesagt:  I  lose.  Aber  Dr.  Reinhold  meldete  nicht  mehr  wie  früher,  in  welchem Schwierigkeitsgrad er den Computer besiegt hatte.  Dr.  Reinhold  war  fleischiger  geworden.  Sein  Gesicht  war  sozusagen über die Ufer getreten, weiche milchweiße Backen  flössen links und rechts vom zart gebliebenen Kinn abwärts.  Die  Augen  schwammen  auf  tiefhängenden  Säcken.  Aber  er  war immer noch der stille hebe Mensch, der alle durch seine  Zurückhaltung  beschämte.  So  hatte  es  Gottlieb  immer  empfunden.  Besonders  in  den  Jahren,  in  denen  sich  Lissi  noch  von  ihrem  bernhardinerhaften  Soziologen  Giselher  hatte bedienen lassen. Der war längst Professor in Frankfurt.  Dr. Reinhold nahm sich Häppchen von den Platten und aß,  wie  er  immer  gegessen  hatte,  nämlich  nur  mit  vier  Zähnen,  oben zwei und unten zwei, mit diesen Frontzähnen zerklei nerte er alles, was er in den Mund schob, ganz schnell. Lissi  war  inzwischen  beim  Thema  Scheidung.  Die  Scheidungen  nähmen,  sagte  sie,  so  zu,  daß  man  von  einer  Scheidungs epidemie sprechen könne. Wohin du kommst, überall lassen  sich  die  Leute  scheiden,  rief  sie.  Und  nicht  nur  in  Stuttgart  und Karlsruhe, nein, auch in den kleinsten Dörfern, und mit  sechsundzwanzig  genau  so  so  wie  mit  zweiundsechzig.  Sie  geriet richtig ins Schwärmen. Gottlieb nickte so nachdenklich  wie möglich. Anna machte ein kritisch zweifelndes Gesicht. 
Auf der Heimfahrt dachte Gottlieb, Anna erwarte von ihm  jetzt eine Stellungnahme entweder zum Thema Altersgeilheit  oder  zum  Thema  Scheidung.  Für  ihn  war  geil  eines  jener  Wörter, die in der Zeit, als er allmählich von Wörtern besetzt  wurde,  bei  ihm  nicht  vorgekommen  waren.  Bis  es  bei  ihm  auftauchte,  hatte  er  für  das,  was  geil  sagen  sollte,  längst  andere, halbwegs brauchbare Wörter. Also wirkte  geil  auf ihn  eher wie ein Fremdwort. Man weiß genau, was gemeint ist,  aber  man  spürt  nichts.  Eines  der  Kunststoffwörter.  Ähnlich  wie  Fan.  Keinesfalls  konnte  er  Anna  oder  irgendeinem  Menschen sonst sagen, was er, wenn er dieses Wort jetzt auf  sich anwendete, empfand.  Geil,  das war doch in jedem Alter  die Stimmung, die nicht heraus durfte. Das war doch immer  nur  unter  besonders  gesegneten  Umständen  erlaubt  gewe sen. Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein  Älterer,  wenn  er  denn  das  war,  was  sie  geil  nannten,  nicht  einfach  geil,  sondern  altersgeil  war.  Die  haben  da  eine  Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die  haben  eine  Moral,  die  sie  ästhetischsittlich  drapieren.  Es  schickt  sich  nicht  nur  nicht,  es  ist  ekelhaft,  alt  und  geil  zu  sein,  das  haben  die  Damen  in  ihrem  SchatzKaltammer Disput  verkündet.  Gründe  haben  sie  nicht  genannt.  Das  ist  einfach  so.  Inter  omnes  constat.  Basta.  Und  weil  das  so  ist,  weiß Gottlieb, daß er, was bei ihm altersgeil genannt werden  konnte  oder  mußte,  zu  verbergen  hatte,  so  wie  er  als  Fünf zehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es gab  Damen und Herren im Ächtungsdienst für jedes Alter. Dabei  war  das  Wort  bei  ihm  nie  vorgekommen.  Ja,  eine  jetzt  offenbar  als  verworfen  zu  bezeichnende  Kundin  hatte  das  Wort einmal in der dafür günstigen Situation gebraucht. Laß  uns  geil  sein  wie  die  Inder,  hatte  sie,  rheinisch 

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