Der Augenblick der Liebe
mehr, dir genügt die Zehntelsekunde zum Luftschnappen, Annas Kopf muß droben bleiben, die Wellen brechen sich an ihrem Kopf, die Blitze sind doch belebend, der Donner auch, alles hilft, deine Beinarbeit zu verdoppeln, nichts als ver doppeln, und Annas Kopf hinaufstemmen und nach Luft schnappen und die Beinarbeit verdoppeln. Dann tasten, gibt es schon Grund, die Tannen schwanken, stürmische Begrü ßung, Gottlieb, das sind die immer ins Wasser reichenden Bodanrücktannen, du hast Grund unter den Füßen. Jetzt schleif sie, schlepp sie hinauf und leg sie dem Wald zu Füßen. Als hätte sie darauf gewartet, öffnet sie die Augen. Aber gleich fallen sie ihr wieder zu. Es war ein Blick, den du nicht verstehst. Ein Blick, der nicht dir galt. Ein mit nichts rechnender Blick. Und hustet. Endlich hustet sie. Hustet und spuckt. Spuckt Wasser. Und er keucht. Hechelt. Wie ein Hund. Ganz kurz und ganz schnell. Er ringt nach Luft. Er kriegt noch lange nicht soviel Luft, wie er brauchte. Und sie spuckt Wasser. Und er wird ewig nach Luft ringen. Nie mehr wird er soviel Luft kriegen, wie er brauchte.
Anna hob ihr Gläschen, wartete, bis er seins auch hob. Na dann, zum Wohl, sagte sie und er sagte, ein bißchen verspätet, zum Wohl. Weißt du was, sagte sie. Wie sollte ich, sagte er. NIOBE wartet, sagte sie. Er konnte nur schauen. NIOBE , sagte sie noch einmal. Wir waren seit zwölf Tagen nicht auf dem Wasser. Stimmt, sagte er. Also, sagte sie. Er tat, als schaue er nach dem Wetter, schüttelte den Kopf. Vorwarnung, sagte er. In einer halben Stunde kocht der See. Schade, sagte sie, ihr sei heute so nach Segeln. Und streckte und dehnte sich. Gottlieb sagte: Mir auch. Aber, sagte er, fügen wir uns. Abgesehen davon, übermorgen sei die zweimal verlängerte Frist für die Steuererklärung abge laufen, und er sei noch mitten drin. Und stand auf und ging zu Anna hin und zog sie hoch und legte seine Arme um sie und sagte: Er habe sie noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick. In diesem Augenblick, sagte sie, wieso denn das. Es ist der Augenblick der Liebe, sagte er. Verstehst du? Nein, sagte sie. Gut, sagte er, küßte sie überall hin, nur nicht auf den Mund, und ging hinein, an seinen Schreibtisch, auf dem die Papiere für die Steuererklärung, übersichtlich geordnet, auf ihn warteten.
Aber bevor er anfangen konnte, fiel ihm noch die Haager Landkriegsordnung ein. Die Staaten haben sich auf Bedingungen geeinigt, unter denen es gestattet ist zu töten. Die Staaten lassen ihre Leute also nicht unter allen Umständen töten, sondern nur unter genau beschriebenen Bedingungen. Wer sich nicht daran hält, wird nachher als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt. Die einzige Einschrän kung, die man machen muß: Es werden fast immer nur Besiegte vor dieses Gericht gestellt. Für den Kampf zwischen zwei Menschen, etwa einem Mann und einer Frau, gibt es keine Bedingungen, die eingehalten werden müssen, keine Grenze der Grausamkeit oder Gemeinheit. Es ist alles erlaubt. Man muß es nur aushalten. Und sich, wenn es schief geht, nachher dafür bestrafen lassen. Gottlieb spürte, wie alle Notwendigkeit zerfiel. Schon zerfallen war. Er konnte froh sein, daß jetzt die Steuererklärung gemacht werden mußte. Anna bewunderte ihn für nichts so sehr wie für seine Fähigkeit, die immer schwieriger werdenden Steuererklä rungen zustande zu bringen. Auch jetzt stand sie in der Tür und sagte: Ich bewundere dich. Er tat, als dürfe er nicht gestört werden. Und fing an. Wollte anfangen, aber es
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