Der Augenblick der Liebe
konnte. Daß er in jedem Augenblick bereit sein mußte, eine Frage Annas zu beantworten, wurde zu einer Qual. Es gab keine Schlüssel für die Türen innerhalb des Hauses. Und wenn es sie gab, hatte sie Anna. Er konnte nur so nah am Telephon sitzen, daß er, wenn Beate Gutbrod anrief, den Hörer abnahm, bevor Anna ihn abnehmen konnte. In der Zeit bis zu Beate Gutbrods Anruf konnte er eine Art Verzichtstraining veranstalten. Zum Schein. Er wußte, daß es für dieses Training zu spät war, aber so tun, als sei er an einer Verzichtsleistung interessiert, das müßte doch gelin gen. Vielleicht konnte er sich sogar hereinlegen. So tun, als spiele er das Verzichtstraining nur durch, um sich etwas vorzumachen, und dann gelingt doch irgendetwas irgend wie, ein Schnitt, ein Schlag, eine erlösende Gewalt. Zuerst ein wenig Calvados.
Dann doch noch etwas mehr. Zur Abschaffung einer Zu rechnungsfähigkeit, die nichts taugte. Er wollte überhaupt nichts wissen von sich. Diese elende Masse Bewußtsein. Diese trübsinnige Seelensauce. Dieser Käfig, der Biographie heißt. Wie lange willst du dir noch gehorchen? Wem gehorchst du denn so unverbrüchlich wie noch nie jemand jemandem gehorcht hat? Nicht einmal einen Namen wagst du dem Tyrannen in dir zu geben. Nicht rühren darfst du an deine Unterworfenheit. Mut gibt¹s an Tankstellen. Fahr hin. Tanke. Dann los. Je t¹emmenérai au bout du monde. Ja, richtig. Nimm den Mund zu voll. Du hältst dieses Dasein, das, bitte, kein Leben ist, nur aus, wenn du den Mund zu voll nimmst. Sag laut alles auf und hinaus, was keine Zukunft hat. Sei blind und taub, außer für das Unmögliche.
Als er hörte, daß Anna das Haus verlassen hatte, verführte er sich zu einem unernsten Ausflug in die Selbstbefrie digung. Nichts als eine Mißhandlung. Liebe Besucherin, warum rufen Sie eigentlich nicht an? Ach so, Sie waren gar nicht da. Sie sind eine Einbildung. Ach so. Etwas nimmt zu in dir, Gottlieb. Fühlt sich ganz schön böse an. Haß? Ach nee. Wörter, die etwas sagen wollen, abwehren. Du gehst mit dem, was dir passiert ist, um wie mit einer Krankheit.
Gottlieb hat Angst. Angst vor dem nächsten Gedanken, der nächsten Sekunde, weil er weiß, woran er denken wird, denken muß. Das ist Gewalt, schlimmer als jede materielle, physische. Schlag oder Stich tut weh, aber auch wenn er sehr weh tut, läßt er dann nach. Und wenn er dich wieder und wieder trifft und jedes Mal noch weher tut, der Schmerz läßt nach jedem Schlag oder Stich wieder nach.
Der Seelenschmerz kann, wenn, was sein Anlaß ist, bleibt, nur zunehmen, du siehst seiner Unerträglichkeit entgegen. Du kannst gleich nichts mehr verbergen. Das nennt man das AUS.
Wenn Anna zurückkommt und findet dich so, sieht sie sofort, seit wievielen Stunden du reglos hockst, ins Undeut liche stierst. Hast du je auf den Augenlidern diese Schwere gespürt, dieses Gewicht? Vierzig Jahre, liebe Anna. Anstatt daß das auf sich beruhte, ruht es jetzt auf deinem Mann. Wiegt ziemlich was. Den Wasserkrug mit der Sonnenblume hatte Anna auf das Fenstersims gestellt. Warum nicht, dachte Gottlieb. Die Sonnenblume ist der Mittelpunkt, egal, wo sie hingestellt wird.
Als er Anna zurückkommen hörte, sprang er auf.
Komm, Anna, komm. Komm auf die Terrasse, setz dich auf den Platz, auf den der Besucherin. Gottlieb serviert. Gottliebs meisterhaftes Omelette soufflée. Mit Spinat. Dazu den Smaragd Riesling, Anna. Anna genießt. Gottlieb genießt auch. Seinen Eifer. Er will es Anna recht machen. Anna soll sich gerettet vorkommen. Nicht der Hauch eines Harms.
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