Der Augenblick der Liebe
was sie hatte sagen wollen. Gottliebs zögerliche Art hatte sie ermutigt. Seine Manier, Sätze nicht zu beenden. Es lohnte sich doch nicht, Sätze zu beenden! Sie hatte sich wohlgefühlt bei diesen hängengebliebenen Sätzen. Dieser Mann sprach, wie er war! Kam bei ihr so gut wie nie vor. Von La Mettrie schwärmend, hatte sie wenigstens eine Art Sehnsucht ausdrücken wollen. Nichts gelten lassen als die eigene Erfahrung und die davon lebende imagination. Warum sollte man sich nicht selbst zum Thema machen? Ob Herr ZürnKrall den Satz kannte? Den würde sie ihm schreiben. Mit Quellenangabe: Systéme d¹Épicure. Und die, die über La Mettrie schreiben, sollen jetzt ihn, ausschließlich ihn zum Thema machen?! Und ausschließlich ihn, das ginge ja noch, sie aber soll erforschen, darstellen, wie er von Lessing und Friedrich II. bis Bernd A. Laska und Ursula Pia Jauch in Deutschland verstanden wurde. Er selbst beruft sich, wenn er sein Thema sein will, auf Montaigne. Also beruft sie sich auf ihn! Sie will auch ihr Thema sein (dürfen). Und wird nicht wagen, es zu sein! Und das wird alles verderben! Natur, sonst nichts. Das Leben. Es hat nie etwas anderes gegeben. Zugeschmiert von Lüge, Tünche, Kulturtapete. Wendelin Kraus erster Aufsatz: La Mettrie war vor Rousseau. Die Befreiung der Natur aus ihrer Stromerzeugungs sklaverei. Vom Verwandlungszwang. Sie ist doch in ihrer kleinen Zehe ganz enthalten! Sie liebt ihre kleine Zehe! Die linke und die rechte! Ihre kleinen Zehen sind ihr wichtiger als Descartes, Kant, Hegel und Konsorten. Daß die Schön heit ... ach, die Schönheit ... Und er hatte nicht bemerkt, daß er sie schöner gemacht hatte als sie ist. Er hat sie ein bißchen angebetet. La Mettrie war Zeuge. Sie ist durch ihn in ihren Körper hineingewachsen. Sie hatte das Gefühl, sie könnte nackt auf seiner Terrasse stolzieren. Als die Frau gegangen war. Nach Pfullendorf.
Dieser Anfall von Lust auf Sichzeigen war ihr neu gewesen. Sie hat an die Geschlechtsgenossen ihres Gastgebers gedacht, die sich darin gefallen hatten, ihr zu sagen, sie rundete sich in der und der Partie zu sehr. Und dann ihre Brüste! Brüste waren nicht mehr gefragt! Sie hat im letzten Semester sechs Kilo abgenommen. Er hatte sie dort auf der Terrasse, nachdem die Frau aufgebrochen war nach Pfullendorf, so angeschaut, daß sie ihm das mit den sechs Kilo am liebsten gesagt hätte. Durch ihn, nur durch seine Art, sie anzu schauen, war sie von einem unmißverständlichen Übermut durchströmt worden. Sechs Kilo abgenommen, was sagen Sie dazu! Aber so etwas kann man nicht sagen. Genau das, was man am allerliebsten sagen möchte, kann man am allerwenigsten sagen.
Ach, Herr La Mettrie. Nancy Fridays Jealousy. Gerade gelesen. Sich von Büchern entdecken lassen. Tut am we nigsten weh. Sie ist doch immer unglücklich verliebt ge wesen. Weil sie anders geliebt hat, als sie geliebt worden ist. Sie ist eine Liebende. Eine Art Midasfluch. Sie will nicht einmal sich selber klar machen, wie sie das meint. Seine Tarte Tatin war eine Kulturleistung. Die zweieinhalb Stunden mit ihm auf der Terrasse waren Stress. Ihn beeindrucken zu wollen, das war Stress. Er ist nicht zu beeindrucken. Nicht mehr. Das kann auch nur ihr passieren, jemanden beein drucken zu wollen, der nicht oder nicht mehr beeindruckbar ist. Und sie meint nicht sein Alter, sondern sein ... seine Fassung, seine Haltung, seine ganze, von ihr auf nichts zurückführbare Unbeeindruckbarkeit. Bei La Mettrie gelernt: Etwas, was man durch keine Erfahrung belegen kann, nicht
Weitere Kostenlose Bücher