Der Augenblick der Liebe
Steine weinen, der Marmor atmet, ja, tout prend vie parmi les corps inanimés. Unterschiede gibt es nur durch den Organisationsgrad. Stimmt¹s? Der Organisationsgrad (der Materie) ist der einzige Unterschied zwischen Wurm und Hund und Mensch und so weiter. Der schimpfende Lessing. Porneutik will er La Mettries Lebenskunst genannt wissen. Vielleicht das erste Mal, daß ein Sittenbeobachter eine seriöse Schrift Porno schimpft. Weiß der Geier, was der gerade mal einundzwanzigjährige, anakreontisch vertändelte Lessing in seiner Bundhose beherbergt hat, daß er hat so böse reagieren müssen auf den naturbegnadeten Mann aus dem Heiligen Malo. Wie konnte er nur am 2. November 1750 seinem hoch zuehrenden Herrn Vater schreiben, das La MettrieBuch über das Glück, sein Discours sur le Bonheur, sei nur zwölfmal ge druckt worden, und die Abscheulichkeit dieses Buches habe dazu geführt, daß der König, der Große Friedrich also, daß der höchstselbst zehn Exemplare davon ins Feuer geworfen hat. Da das mit dem, was sie über das Verhältnis des Königs zu seinem Leibmedikus La Mettrie weiß, nicht übereinstimmt, muß sie das in ihrer Dissertation klären.
Der Post ist ein Streich gelungen. Sein Brief war vierzehn Tage unterwegs. Living in suspense. War sie zu weit gegan gen? Pangs of conscience. Wurde ihr Brief dort am Familien tisch auseinandergenommen? Belächelt? Beschimpft? Zerris sen? Schon war sie drauf und dran, einen Kommentar hinter herzuschicken: Alles nur Wissenschaft, Ichexperiment, hat La Mettrie recht, wenn er usw. Allerdings, der deutsche Briefstilist turnt ganz schön im Vorsichtigen herum. Gerade, als könnten seine Briefe auch bei ihr noch jemandem in die Hände fallen, der nichts merken darf. Und dann wacht sie auf mit der, nein, in der, nein, an der Gewißheit, daß ein Brief von ihm da sein werde. Und sofort begreift sie nicht mehr, wie man sich überhaupt täuschen kann. Sie lebt, allerdings nur augenblicksweise, im Zustand solcher Gewiß heit. Als sie dann in der Abteilung Glen O. Rosenne begegnete, spürte sie sofort, daß die Daseinsfülle, die sie im Augenblick ausstrahlte, seine Dünnlippigkeit drastisch verschärfte. Dabei hatte sie den heutigen Brief noch gar nicht gelesen. Sie las die Briefe aus Deutschland immer erst abends. Sie mußte dieses Briefelesen zelebrieren. Kerze und Komik inklusive. Rosenne, sofort alles erfassend, fand sofort die richtigen Wörter zur Beendigung ihres Zustands. Sie dürfe sich nicht an die einzelnen Stationen des La Mettrie Wegs in Deutschland verlieren, etwa dadurch, daß sie jeder Station dieses Wegs von Lessing bis Laska ihr Recht oder Unrecht nachwiese, sie solle sich möglichst nicht einmischen, sondern nur darstellen, berichten, alles andere müsse, bei ihrer psychischen Verfassung, wegen notorischer Selbstüber forderung in Panik enden. Nachdem er dieses Wort (panic stricken) eingeführt hat in den Dialog zwischen ihr und ihm, will die Panik in ihr wachsen und gedeihen. Seitdem ist sie on the edge.
Als sie siebzehn war, hat sie sich mit der Schere aus dem Familienbild herausgeschnitten. Mit neunzehn ab nach Amerika. Inzwischen gibt es nichts, was sie so froh stimmt wie die Gewißheit, nie mehr siebzehn, achtzehn, neunzehn sein zu müssen. Daß der Vater zwei Jahre später von Untertürkheim nach Manhattan überwechselte, weil Mer cedes ihn an der Front brauchte, kann einen Zufall nennen, wer keinen Durchblick hat. Schwester Bettina (die hat einfach den besseren Namen erwischt!) war da schon so verliebt und fast verheiratet, blieb also in Stuttgart. Statt der Töchter hat die Mutter zwei
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