Der Augenblick der Liebe
röteramrotesten. Ach, Deutsch, diese Sprache, in der mehr verboten als erlaubt ist!
Daß die Mutter ihre zwei Sittiche immer noch bei der Tochter deponieren muß, wenn sie mit ihrem Mann in Fort Lauderdale, Florida, Urlaub verleben will, zeigte der Tochter, wie wenig die Eltern in Amerika angekommen sind. In diesem Land, in dem alles Menschliche sich zuerst einmal als Nachbarschaft auslebt! Wenn sie die zwei Schnäbel in Pflege nahm, mußte sie einerseits so tun, als sei sie glücklich, Hansel und Gretel endlich wieder beherbergen zu dürfen, andererseits durfte aus ihrem Glück nicht zu schließen sein, sie sei einsam und deshalb sittichfroh. Eine einsame Tochter in Chapel Hill, das würde dem Sittichpaar in Fort Lauderdale die Urlaubsmelodie verstimmen. Es ist doch schön, wenn zwischen Eltern und Kindern alles bis ins Feinstkleinste geregelt ist, ohne daß das je formuliert werden muß. Das sind die zwingendsten Verträge, die gelten, ohne geschlossen werden zu müssen. Zuerst streiften Mutter und Tochter durch Antiquariate. Für fünfzig Dollar sechs Bücher: Lessing (1824), König Ödipus (1785), Cicero über die Pflichten (1784), Diderot (1774), Rousseau (1789), Holbach (1776). Dafür mußte die Tochter mit in die Antique Stores. Die Mutter ist nicht mehr scharf auf Meißen, sondern auf die schüsselartigen Teller aus der Mingdynastie. Die Entzük kenslaute der Mutter! Nirgends sei soviel aus der Ming dynastie hängen geblieben wie in North Carolina, zwitscherte sie, wenn wieder eine Schale erobert war. Daß antique heißt, was es heißt, weiß die Mutter, daß aber antic soviel wie grotesk heißt, weiß die Mutter nicht. Daß Beate J. ihrer Madelon die Eltern vorenthielt, nahm sie sich übel. Über ihr German Other wußte Madelon inzwischen mehr als Beate J. selber. Madelon arbeitete alles, was sie erfuhr, in ein Kolossalgemälde ein. Beate J. war, was den Terrassen menschen anging, jähen Wettern − ist gleich Lichtwechseln − ausgesetzt. Mal hatte sie alles übernah und scharf und wie unverlierbar, dann war gleich wieder nichts mehr greifbar, alles ganz ungewiß. Madelon illustrierte Beate J. und Gottlieb Wendelin inzwischen als Freud und Dora. Sie malte, wenn sie mit Beate unter Chapel Hills gewaltigen Bäumen promenierte, eine historische Szene mit acht Figuren, nur geschaffen zur gegenseitigen Beleuchtung im Dienste der Erkenntnis. Da sind dann: der Freud der HysterieSchrift und der wirkliche Freud (den Madelon aus allen biogra phischen Schlupfwinkeln, in die er sich verkrochen hat, herausholt); Gottlieb Zürn, Germany, ein leidenschaftlicher Verundeutlicher, der an allem, was er verundeutlicht, keinen Zweifel läßt, und Wendelin Krall, der leidenschaftlich darauf besteht, ein rückhaltloser La Mettrist, also ein Verdeutlicher zu sein; Beate J., Chapel Hill, auf der Suche nach einer Rolle, die weniger anstrengend ist als ihre bisherigen Rollen, und Juliette, die sich zutraut, sie selbst zu sein. Dazu noch zwei Madelons: die unnachgiebige Freudforscherin und die vor der ganzen Welt, außer vor Beate verheimlichte Geliebte des großen Erfinders Brian Dewey. Beate muß Madelon noch melden, daß sie inzwischen nicht mehr Juliette, sondern Themire heißen möchte (siehe die Schriften Volupté und Épicure). Am liebsten würde Beate nur noch über einen einzigen Satz ihres Patrons schreiben: Ich habe die Stärke gehabt zu vergessen, was ich aus Schwache gelernt hatte (Épicure, S. 64). Madelon eröffnete sie, nicht als Krieg, sondern als Spiel, daß in diesem Satz ein AntiFreudProgramm glühe.
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