Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
röteramrotesten. Ach, Deutsch, diese Sprache, in der mehr  verboten als erlaubt ist! 
Daß  die  Mutter  ihre  zwei  Sittiche  immer  noch  bei  der  Tochter  deponieren  muß,  wenn  sie  mit  ihrem  Mann  in  Fort  Lauderdale,  Florida,  Urlaub  verleben  will,  zeigte  der  Tochter, wie wenig die Eltern in Amerika angekommen sind.  In diesem Land, in dem alles Menschliche sich zuerst einmal  als  Nachbarschaft  auslebt!  Wenn  sie  die  zwei  Schnäbel  in  Pflege nahm, mußte sie einerseits so tun, als sei sie glücklich,  Hansel  und  Gretel  endlich  wieder  beherbergen  zu  dürfen,  andererseits durfte aus ihrem Glück nicht zu schließen sein,  sie sei einsam und deshalb sittichfroh. Eine einsame Tochter  in  Chapel  Hill,  das  würde  dem  Sittichpaar  in  Fort  Lauderdale  die  Urlaubsmelodie  verstimmen.  Es  ist  doch  schön,  wenn  zwischen  Eltern  und  Kindern  alles  bis  ins  Feinstkleinste geregelt ist, ohne daß das je formuliert werden  muß.  Das  sind  die  zwingendsten  Verträge,  die  gelten,  ohne  geschlossen werden zu müssen. Zuerst streiften Mutter und  Tochter durch Antiquariate. Für fünfzig Dollar sechs Bücher:  Lessing  (1824),  König  Ödipus  (1785),  Cicero  über  die  Pflichten  (1784),  Diderot  (1774),  Rousseau  (1789),  Holbach  (1776).  Dafür  mußte  die  Tochter  mit  in  die  Antique  Stores.  Die Mutter ist nicht mehr scharf auf Meißen, sondern auf die  schüsselartigen  Teller  aus  der  Mingdynastie.  Die  Entzük kenslaute  der  Mutter!  Nirgends  sei  soviel  aus  der  Ming dynastie  hängen  geblieben  wie  in  North  Carolina,  zwitscherte  sie,  wenn  wieder  eine  Schale  erobert  war.  Daß  antique  heißt,  was  es  heißt,  weiß  die  Mutter,  daß  aber  antic  soviel wie grotesk heißt, weiß die Mutter nicht. Daß Beate J.  ihrer  Madelon  die  Eltern  vorenthielt,  nahm  sie  sich  übel.  Über ihr German Other wußte Madelon inzwischen mehr als  Beate J. selber. Madelon arbeitete alles, was sie erfuhr, in ein  Kolossalgemälde  ein.  Beate  J.  war,  was  den  Terrassen              menschen anging, jähen Wettern − ist gleich Lichtwechseln −  ausgesetzt.  Mal  hatte  sie  alles  übernah  und  scharf  und  wie  unverlierbar,  dann  war  gleich  wieder  nichts  mehr  greifbar,  alles  ganz  ungewiß.  Madelon  illustrierte  Beate  J.  und  Gottlieb Wendelin inzwischen als Freud und Dora. Sie malte,  wenn  sie  mit  Beate  unter  Chapel  Hills  gewaltigen  Bäumen  promenierte,  eine  historische  Szene  mit  acht  Figuren,  nur  geschaffen  zur  gegenseitigen  Beleuchtung  im  Dienste  der  Erkenntnis.  Da  sind  dann:  der  Freud  der  HysterieSchrift  und  der  wirkliche  Freud  (den  Madelon  aus  allen  biogra phischen  Schlupfwinkeln,  in  die  er  sich  verkrochen  hat,  herausholt);  Gottlieb  Zürn,  Germany,  ein  leidenschaftlicher  Verundeutlicher, der an allem, was er verundeutlicht, keinen  Zweifel läßt, und Wendelin Krall, der leidenschaftlich darauf  besteht, ein rückhaltloser La Mettrist, also ein Verdeutlicher  zu sein; Beate J., Chapel Hill, auf der Suche nach einer Rolle,  die  weniger  anstrengend  ist  als  ihre  bisherigen  Rollen,  und  Juliette,  die  sich  zutraut,  sie  selbst  zu  sein.  Dazu  noch  zwei  Madelons:  die  unnachgiebige  Freudforscherin  und  die  vor  der ganzen Welt, außer vor Beate verheimlichte Geliebte des  großen  Erfinders  Brian  Dewey.  Beate  muß  Madelon  noch  melden,  daß  sie  inzwischen  nicht  mehr  Juliette,  sondern  Themire  heißen  möchte  (siehe  die  Schriften  Volupté  und  Épicure).  Am  liebsten  würde  Beate  nur  noch  über  einen  einzigen  Satz  ihres  Patrons  schreiben:  Ich  habe  die  Stärke  gehabt zu vergessen, was ich aus Schwache gelernt hatte (Épicure,  S.  64).  Madelon  eröffnete  sie,  nicht  als  Krieg,  sondern  als  Spiel,  daß  in  diesem  Satz  ein  AntiFreudProgramm  glühe. 

Weitere Kostenlose Bücher