Der Augenblick der Liebe
Es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie Spinozas. Und später Albert Einstein, von einem Rabbiner gefragt, ob er an Gott glaube: Ich glaube an den Gott Spinozas ... Auch wenn er dann den allzu menschenähnlichen Gott verwirft und aus Spinoza einen Gott der Superstruktur bezieht, auf La Mettrie wird sich keiner berufen, wenn er nach Gott gefragt wird. Er ist als Arzt so erfahrungshörig wie als Philosoph. Daß er nicht von sich absehen kann, befreit ihn aus den Zwängen zum System, das nachher nicht mehr weiß (oder sogar verbirgt), woher es kommt und stammt.
Die Empfindung bzw. Wahrnehmung erklärt er zur Quelle allen Urteilens. So kann er gegen Ende seines AntiSeneca sagen: Ich habe das Thema meinen Empfindungen entsprechend abgehandelt und sozusagen meinen Charakter zu Papier gebracht. Trotz dieses nichts als persönlichen Schreibens geht ihm der gesellschaftliche, ja menschheitliche Anlaß nie verloren. Wenn er sich gegen Anfeindungen jeder Art wehrt, beteuert er, daß er nur danach strebe, die menschliche Gattung von Schuldgefühlen zu befreien. Er hasse, ja verabscheue alles, was der Gesellschaft schade. Der Philosoph muß formulieren: Die Tugend ist nichts als eine willkürliche Konvention. Die aber will er, auch wenn er sie nicht absolut gelten läßt, doch achten. Genau so wie er nichts tut oder tun will, was ihm Schuld gefühle verursacht, obwohl er erkennt, daß Schuldgefühle nur ein Produkt der Erziehung sind. Er ist ein Moralist der höheren Art. Die Ketten der Vorurteile und Schuldgefühle zerbrechen: Das ist sein unerschöpfliches Motiv. Sein Ziel: die Glückseligkeit der ganzen Menschheit. Daß er, wie kühn er auch wird, immer sich, seine Erfahrung und Empfindung, seinen amour propre anruft zur Bestätigung oder Widerlegung alles Gedachten, das macht seine Verläßlichkeit aus. Im Beiläu figsten wie im Anspruchvollsten. Wenn er müde sei vom Denken und Schreiben und sich ganz leer fühle, lese er Montaigne und empfinde dann dessen Geschriebenes wie eine leichte Brise, die über die äußeren Fasern des Kopfes streicht und so auf die inneren des Gehirns wirkt und dem überanstrengten Gehirn die Schwere mildert. Und merkt dazu an: Die gleiche Wirkung hat auch ein Guß kalten Wassers: Das durch die Anspannung gestaute Blut kann wieder frei zirkulieren. Pfarrer Kneipp läßt grüßen. Aber auch an Rom und Griechenland wird man als sein Leser oft erinnert. Überhaupt reichen wir an die Alten nicht heran. Das läßt ihn sich zu Cicero und Plinius d. J. zählen, daß die nur ihre persönlichen Vorlieben überschwenglich dargestellt haben. Aber er geht nie unter in einem Gedankenimpressionismus, sein Thema bleibt die Natur, auch wenn er es ganz und gar aus seiner Emp findung, seinem amourpropre behandelt.
Trotz aller Bildung kommt er wie ungelehrt daher. Nor matives ist ihm fremd. Das Denken geht den Sätzen nicht voraus, sondern findet in ihnen, durch sie statt. Es gibt, was er gibt, nur in seinen Sätzen. Die Sätze bezeugen unmittelbar, aus welcher Erfahrung sie stammen. Sein Gedachtes drückt immer die Stimmung aus, aus der es entstanden ist. Eben diese erfahrungsgesättigte Kenntlichkeit, diese immer aus dem eigenen Leben stammende Stilistik hat ihn in Verruf gebracht. Bei den Theologen und bei den Aufklärern gleichermaßen. Es charakterisiert ihn gewaltig, wie Lessing und Diderot auf ihn geschimpft haben. Lessing empfahl ihm in der Rezension von L¹Art de jouir als Titel Porneutik. Priapeische Ausrufungen seien das. Und Diderot: Einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen
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