Der Augenblick der Liebe
schließe ich aus der Schar der Philosophen aus. Das gibt es ja bis heute, daß Intellektuelle, die es zu Ansehen, also Einfluß, also Macht gebracht haben, einen anderen Intellektuellen, der ihnen nicht liegt, aus der Branche ausschließen möchten. Das ist, auch unter säkularisierten Umständen: odium theologicum. Ein Eifer, der entsteht, wenn man sein eigenes aufgeklärtes Normatives universalisieren will. Noch fünfzehn Jahre später hat Lessing es in seinem vor Wahr nehmungslust und Folgerungskraft blitzenden Laokoon nicht lassen können, des längst Verstorbenen böse zu gedenken. Es geht um La Mettries Porträtbild. Beim ersten Hinschauen halte man den Gesichtsausdruck des Abgebildeten für Lachen, schaue man noch einmal hin, wird aus seinem Lachen ein Grinsen. Warum reizt er die Anständigen so? Weil er mutwilliger schreibt als sie. Er fühlt sich erst wohl, wenn er das Gefühl hat, er sei zu weit gegangen. Zu weit, was Anstand und Sittlichkeit angeht. Er lebt geradezu davon, das öffentlich zu bezeugen, was bisher jeder ausgeklammert hat. Dieser Leidenschaft verdanken wir diese Zeugnisse, die uns sagen, daß im 18. Jahrhundert kein bißchen anders empfun den wurde als heute. Und wir erkennen, was alles, etwa in der aufklärerischen Enzyklopädie, ausgeklammert wurde. Und das war sein Vergehen: Er hat die Sinne zu seinen Phi losophen gemacht, er hat versucht gleichsam im Durchgang durch die Organe die Seele zu entwirren, aber − und damit entspricht er immer noch moderner Quantenphysik, die ohne die Statistik nicht auskommen will − aber, sagt er, er könne zwar nicht mit letzter Eindeutigkeit die Natur selbst des Menschen entdecken, aber er suche den größten Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu erreichen. Weil er alles, was er denkend erfuhr und dadurch erkannte, auch wieder auf sich anwandte, auf sich als Mann und Mitbürger, also auf seine Lust und auf seine Moral, und so zu einer Sprache kam, Lust überhaupt und Moral überhaupt betreffend, deshalb wurde er beschimpft und verleumdet wie sonst keiner. Und hat doch geschrieben: Sich um die Gesellschaft verdient machen − darin besteht ... alle Tugend.
Keiner hat so leidenschaftlich gegen die Todesstrafe ge schrieben. Der Verbrecher habe getötet aus bestimmten Gründen, aus Not, Verzweiflung oder sittlicher Be schränktheit; der Henker töte (den Verbrecher) für nichts als Geld. Und so weiter. Wo immer man ihn aufsucht, er wirkt immer wie ein Mensch mozartischer Heiterkeit, Sin nenfreudigkeit und Offenheit. Aber um das Niveau seines auf die Materie gerichteten Denkens noch einmal der heu tigen Sprache auszusetzen, noch einmal Manfred Eigen: Wir verstehen − um es ganz klar zu sagen − unter «Selbstorganisation der Materie» nichts anderes als die aus definierten Wechselwirkungen und Verknüpfungen bei strikter Einhaltung gegebener Randbedingungen resultierende Fähigkeit spezieller Materieformen, selbstreproduktive Strukturen hervorzubringen. Oder − und man stelle sich vor, mit welchem Enthusiasmus La Mettrie solche Sätze gelesen hätte: Indem wir das Phänomen Leben auf die Gesetze der Physik und Chemie zurückführen, stellen wir keineswegs in Abrede, daß diese neue Ebene der Organisation sich in einer für diese allein typischen und charakteristischen Form äußert, ja, daß aus der materiellen Organisation schließlich auch nichtmaterielle Wirkungen hervorgehen.
Bleiben wir innerhalb der philosophischen Sprache, die jetzt das Sagen nicht mehr hat, wenn es um Natur geht. Der Anspruch La Mettries an das Denken existiert noch. Seine esprits animaux, seine organismische Struktur, seine Zirkulation des
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