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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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schließe ich aus der Schar der Philosophen aus.  Das gibt es ja bis  heute,  daß  Intellektuelle,  die  es  zu  Ansehen,  also  Einfluß,  also  Macht  gebracht  haben,  einen  anderen  Intellektuellen,  der ihnen nicht liegt, aus der Branche ausschließen möchten.  Das  ist,  auch  unter  säkularisierten  Umständen:  odium  theologicum. Ein Eifer, der entsteht, wenn man sein eigenes  aufgeklärtes  Normatives  universalisieren  will.  Noch  fünfzehn  Jahre  später  hat  Lessing  es  in  seinem  vor  Wahr nehmungslust und Folgerungskraft blitzenden  Laokoon  nicht  lassen können, des längst Verstorbenen böse zu gedenken. Es  geht  um  La  Mettries  Porträtbild.  Beim  ersten  Hinschauen  halte  man  den  Gesichtsausdruck  des  Abgebildeten  für  Lachen, schaue man noch einmal hin,  wird aus seinem Lachen  ein  Grinsen.  Warum  reizt  er  die  Anständigen  so?  Weil  er  mutwilliger schreibt als sie. Er fühlt sich erst wohl, wenn er  das  Gefühl  hat,  er  sei  zu  weit  gegangen.  Zu  weit,  was  Anstand und Sittlichkeit angeht. Er lebt geradezu davon, das  öffentlich zu bezeugen, was bisher jeder ausgeklammert hat.  Dieser Leidenschaft verdanken wir diese Zeugnisse, die uns  sagen, daß im 18. Jahrhundert kein bißchen anders empfun den  wurde  als  heute.  Und  wir  erkennen,  was  alles,  etwa  in  der  aufklärerischen  Enzyklopädie,  ausgeklammert  wurde.  Und das war sein Vergehen: Er hat die Sinne zu seinen Phi losophen  gemacht,  er  hat  versucht  gleichsam  im  Durchgang  durch  die  Organe  die  Seele  zu  entwirren,  aber −  und  damit  entspricht  er  immer  noch  moderner  Quantenphysik,  die  ohne  die  Statistik  nicht  auskommen  will −  aber,  sagt  er,  er  könne  zwar  nicht  mit  letzter  Eindeutigkeit  die  Natur  selbst  des  Menschen  entdecken,  aber  er  suche  den  größten  Wahrscheinlichkeitsgrad  dies  betreffend  zu  erreichen.  Weil  er  alles,  was  er  denkend  erfuhr  und  dadurch  erkannte,  auch  wieder auf sich anwandte, auf sich als Mann und Mitbürger,  also  auf  seine  Lust  und  auf  seine  Moral,  und  so  zu  einer  Sprache  kam,  Lust  überhaupt  und  Moral  überhaupt  betreffend,  deshalb  wurde  er  beschimpft  und  verleumdet  wie  sonst  keiner.  Und  hat  doch  geschrieben:  Sich  um  die  Gesellschaft verdient machen − darin besteht ... alle Tugend.  
Keiner  hat  so  leidenschaftlich  gegen  die  Todesstrafe  ge schrieben.  Der  Verbrecher  habe  getötet  aus  bestimmten  Gründen,  aus  Not,  Verzweiflung  oder  sittlicher  Be schränktheit; der Henker töte (den Verbrecher) für nichts als  Geld. Und so weiter. Wo immer man ihn aufsucht, er wirkt  immer  wie  ein  Mensch  mozartischer  Heiterkeit,  Sin nenfreudigkeit  und  Offenheit.  Aber  um  das  Niveau  seines  auf  die  Materie  gerichteten  Denkens  noch  einmal  der  heu tigen Sprache auszusetzen, noch einmal Manfred Eigen:  Wir  verstehen − um es ganz klar zu sagen − unter «Selbstorganisation  der  Materie»  nichts  anderes  als  die  aus  definierten  Wechselwirkungen  und  Verknüpfungen  bei  strikter  Einhaltung  gegebener  Randbedingungen  resultierende  Fähigkeit  spezieller  Materieformen,  selbstreproduktive  Strukturen  hervorzubringen.  Oder − und man stelle sich vor, mit welchem Enthusiasmus  La Mettrie solche Sätze gelesen hätte:  Indem wir das Phänomen  Leben auf die Gesetze der Physik und Chemie zurückführen, stellen  wir keineswegs in Abrede, daß diese neue Ebene der Organisation  sich in einer für diese allein typischen und charakteristischen Form  äußert,  ja,  daß  aus  der  materiellen  Organisation  schließlich  auch  nichtmaterielle Wirkungen hervorgehen.  
Bleiben  wir  innerhalb  der  philosophischen  Sprache,  die  jetzt das Sagen nicht mehr hat, wenn es um Natur geht. Der  Anspruch  La  Mettries  an  das  Denken  existiert  noch.  Seine  esprits animaux,  seine  organismische Struktur,  seine  Zirkulation  des 

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