Der Augenblick der Liebe
Blutes, der Lymphe, sein Bedürfnis, bei der Natur in ihrer großartigen Einfachheit zu verweilen, das alles hat inzwischen andere Namen, aber diese neuen Namen bestätigen, daß seine Wörter, die entstanden waren gegen das Himmel und Erde verfinsternde Vorurteil, ihre Helle nicht eingebüßt haben. Und die, die ihn als einen philosophierenden Unhold verdammten, hat er schon vorweg überholt mit dem Satz: In der Gesellschaft, in der er trotz seiner Kühnheit kaum mit Einfluß rechnen könne, sei seine einzige Maske die Masken losigkeit gewesen. Die Zeit, in der die gewissermaßen radikale Bezüglichkeit des Denkens auf den, der denkt, anstößig wirkte, ist vorbei. La Mettrie ist zwar ziemlich unbekannt geblieben, aber er müßte, um akzeptiert zu werden, nur noch gelesen werden.
II. Wenn man in einem anderen das entdeckt, worin er nicht übertroffen werden kann, ist man glücklich. Und wenn man das in einem Denker entdeckt, der vor mehr als 250 Jahren gedacht und geschrieben hat, ist man glücklich und fröhlich. Daß man zu jeder Zeit Unüberholbares aussprechen oder schreiben kann, darf einen auf fröhliche Art festlich stimmen. Aber verfehlt man ihn nicht doch, wenn man sich so emsig um ihn bemüht? Der von Montaigne geerbte Anspruch: sich selbst zum Thema zu machen! Und La Mettrie hat, wie weit er dann auch ausgreift, nichts anderes getan, als eben sich, seinen Charakter zu Papier zu bringen, ohne daß ihm die radikale Inanspruchnahme der eigenen Erfahrung je zum Bloßprivaten verkommen wäre. Jetzt, mach¹s auch so. Ohne es nachzumachen. Dein durch La Mettrie geschärftes Thema: die Erziehung als eine Ausbildung zum Gefangenen. Von Anfang an war kein Mensch und keine Institution daran interessiert, dich zu dir selbst kommen zu lassen. Die Erziehung als Zumutung. Aber dann hast du angefangen, deine Erzieher zu betrügen. Du hast mehr als eine Persönlichkeit entwickelt.
Das tut jeder. Keiner ist nur das, was die Erziehung aus ihm machen wollte. Wieviele Persönlichkeiten einer dann ausbildet, hängt davon ab, wieviele er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht. Ein paar Berufspersönlichkeiten und ein paar Privatpersönlichkeiten sind es allemal. Der Erfolg dieser Persönlichkeitenentwicklung hängt davon ab, wie sehr es dir gelingt, jede Persönlichkeit, wenn du sie brauchst, wenn sie also agiert, als deine einzige zu produ zieren. Dazu mußt du jedesmal selber glauben, das jetzt seist du ganz und gar. Dann wird dir das auch von anderen geglaubt. Dieser mozartische Kettenzerbrecher hat dich hingewiesen auf deine Gefangenschaft. Also, dem Befreier La Mettrie gewidmet: Du als der Gefangene. Von Anfang an.
Was auch immer du an Fluchten geplant und ausgeführt hast, du bist ausgebrochen als der Gefangene, und wo du hinkamst, warst du der Gefangene auf der Flucht. Die Lage ist schwieriger als zu La Mettries Zeiten. Sein Haß gegen die Vorurteilsfürsten seiner Zeit, gegen die Theologen und gegen die das Vorurteil kultivierenden Philosophen, war leicht zu haben. Die Szene war danach. Die Szene hat sich verfeinert. Wessen Gefangener bist du denn? Auf jeden Fall erleidest du eine Daseinsminderung auf Schritt und Tritt, weil du nicht dein Leben lebst, sondern ein Gefangenen leben. Das ist geworden aus einem Erziehungprogramm, dem man nichts Böses nachsagen kann. Du darfst dich für typisch halten. Andere, die du liebst, wieder andere, die du nicht liebst, kommen dir verwandt vor. Durch Erfahrung oder Schicksal. Ihr könnt euch in allem vergleichen, aber daß ihr Gefangene seid und wie sehr,
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