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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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das  verschweigt  ihr  vor  einander. Du bist jetzt immerhin so weit, daß du dir, sobald  du  dein  Gefangensein  verheimlichst,  nichts  mehr  glaubst.  Von  allen  Persönlichkeiten,  die  du  hast  entwickeln  müssen,  hat  sich  keine  so  übermäßig  entwickelt  wie  die  des  Gefan genen.  Daß  du  nicht  sagen  darfst,  wessen  Gefangener  du  bist, macht dich mundtot. Daß dir erlaubt ist, dich für frei zu  halten,  du  aber  von  dieser  Erlaubnis  keinen  Gebrauch  machen  kannst,  macht  dich  vor  dir  selbst  zum  Feigling.  Denen, die mit dir zu tun hatten, ist es gelungen, ohne Plan  gelungen,  ganz  von  selbst  gelungen,  dich  zu  einem  Menschen  zu  machen,  der  von  keiner  angebotenen  Freiheit  Gebrauch  machen  kann.  Er  kann  einfach  nicht.  Er  ist  ein  Gefangener.  Jeder  Versuch,  dich  frei  zu  fühlen  oder  gar  zu  benehmen,  mündete  bis  jetzt  im  Schuldgefühl.  Das  ange borene  oder  anerzogene  Gewissen.  Ob  angeboren  oder  anerzogen, es ist die mächtigste, wachsamste, unerbittlichste,  unbetrügbarste Regung, deren du fähig bist. 
Die  Gegenwelt,  deren  Gefangener  du  von  Anfang  an  bist,  ist das Gute. Das jeweilige Gute. Das immer so genannte, das  immer  anerkannte,  das  herrschende  Gute.  Du  kannst  den  Mund  nicht  aufmachen  gegen  das  Gute,  ohne  dir  schlecht  vorzukommen.  Du  erkennst  das,  was  als  das  Gute  gilt  und  herrscht  und  es  wahrscheinlich  sogar  ist,  du  erkennst  es  nicht  an.  Aber  du  wagst  es  nicht,  daraus  Handlungen  werden  zu  lassen.  Du  bist  der  Gefangene,  das  heißt,  du  darfst  nicht  sagen,  was  du  denkst;  du  darfst  nicht  handeln,  wie  du  willst,  sondern  du  mußt  leben,  wie  du  mußt.  Und  daß  Rousseau  meint,  wer  glaube,  der  Herr  über  andere  zu  sein, sei noch mehr ein Sklave als jene, über die er Herr ist,  hilft  dir  nicht.  Das  ist  die  Gerechtigkeitsillusion.  Von  dir  wird sogar verlangt, daß du dein Gefangensein kein bißchen  sehen,  spüren,  merken  läßt.  Alle  deine  Verrichtungen,  Äußerungen,  Handlungen  müssen  aussehen,  als  geschähen  sie freiwillig. Bis zum Aberwitz werden Wörter gedrillt, wird  die  Grammatik  gequält,  um  zu  beweisen,  der  Mensch  habe  einen  freien  Willen.  Das  wiederum  findet  statt,  um  ihn  bestrafbar  zu  machen.  Dabei  ist  zuzugeben,  daß  schon  die  Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe, ein Witz ist.  Jede Frage kann so beantwortet werden, wie sie es wünscht.  Mehr  noch,  sie  enthält  die  Antwort  ganz  und  gar.  Anders  wäre  dein  Leben  die  stummste  Trostlosigkeit.  Aber  da  du  durch  Erfahrung  weißt,  daß  du  genau  so  keinen  freien  Willen  hast,  wie  du  einen  freien  Willen  hast,  kannst  du  dir  einbilden,  es  gebe  überhaupt  Spielraum.  Eines  Tages  wird  das  Leben  auf  deine  Träume  hören.  Es  kann  nicht  anders.  Und  das  Wichtigste:  Du  hast  in  deinen  Träumen  keine  Schuldgefühle.  Du  unterliegst  zwar  regelmäßig  und  mußt  Mißhandlungen und Demütigungen hinnehmen; aber immer  erst,  wenn  du  ausgebrochen  bist,  aufgebrochen  bist,  wenn  dir eine im Traum nicht meßbare Zeiteinheit lang Freiheit ge lungen  ist.  Shakespearisierend  kannst  du  dir  in  deinen  Träumen  vorkommen.  Trotz  der  Bestrafungen,  denen  du  dann regelmäßig unterworfen wirst, trotz der Gemeinheiten,  die  dir  dann  körperlich  und  seelisch  angetan  werden,  du  hast  Freiheit  gehabt.  Du  warst  nicht  meßbare  Zeiteinheiten  lang  frei  von  Schuldgefühlen.  Das  wird  durch  nichts  so  deutlich wie durch das Erwachen. Der Sturz des Gefangenen  in  sein  Zeug.  Das  Verstummen.  Das  Verneintsein.  So  sehr,  daß du es nicht nur geschehen läßt. Der Grad des Verneint seins  produziert  eine  diesem  Grad  entsprechende  Kraft.  Zuerst  nur  als  Vorstellung.  Aber  je  unverfälschter  du  dem 

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