Der Augenblick der Liebe
war, konnte er nicht sagen, er sei gerade nicht so hymnisch gestimmt, könne also ein so weitgehendes Zusammenkom men nicht so natürlich praktizieren, im Gegenteil, er fühle, das gehe zu weit, noch oder überhaupt, aber das war nicht aussprechbar, er mußte, was ihr möglich war oder gar notwendig war, geschehen lassen, er mußte es mitmachen. Um ihretwillen. Obwohl ihm nicht danach war. Am liebsten hätte er, als sie ihn so bediente, gesagt: Sprich doch mit mir. Aber wenn er gesagt hätte: Sprich mit mir! hätte sie sagen können: Mit vollem Mund spricht man nicht. Und schon war er in der Assoziationsfalle. Philipp, Rosas Pastor, sprach nur mit vollem Mund. Sobald er nicht mehr aß, war er ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Aß er, sprach er. Und nicht mit vollem, sondern mit vollstem Mund. Er schaufelte Essen in den Mund, bis die Backen platzen wollten, dann sprach er, sprach, als wolle er beweisen, daß er auch mit vollstem Mund sich immer noch verständlich machen konnte. Und das konnte er. Das war sogar das Gemeinste, daß er seine radikal dialektische Theologie so mampfend verkündete. Und ruderte dabei mit Messer und Gabel wild durch die Luft. Gott, kein Kamerad, sondern eine Zumutung. Das war seine Verkündigung. Und das im vollsten fränkischen Dialekt, als solle auch noch dieser sonst so herbschöne Dialekt geschunden werden. Als das zum ersten Mal im Hause stattfand, hatte Gottlieb aufstehen und hinausgehen müssen. Natürlich so, daß nicht deutlich wurde, warum er ging. Inzwischen stand er, wenn Rosa mit dem Mampfer zu Besuch war, nicht mehr auf, aber dabei sitzen bleiben zu müssen, war jedes Mal eine Nerven aufreibende Anstren gung. Daß Rosa, die Feinfühligste von allen, ihrem Philipp, wenn er mampfend dialektische Theologie predigte, förmlich am Mund hing, konnte er nicht begreifen. Komm zurück! Sprechen ist hier im Augenblick nicht angesagt. Mitmachen ist dran. Rise to the occasion. Aber in ihm fragte es sich doch: Ist das jetzt das Kind, das alles in den Mund nimmt, oder die amerikanisch gestimmte Frau, die die Rolle spielt, die hier die Frau zu spielen hat? Angenommen, die Frau habe von diesem Munddienst weniger als der Mann, dann hieße das, in diesem freiheitsberühmten Land hätten es die Männer gern, daß die Frauen ihnen etwas leisten, wovon die Frauen weniger haben als die Männer. Aber ein Mann hat doch von diesem Munddienst auch weniger, als wenn er sein Teil dahin bewegt und darin bewegt, wo es hingehört. Das hieße, beide haben weniger davon, aber eine Unterwerfung oder gar Erniedrigung der Frau wird erlebbar beim Munddienst. Für beide. Könnte es dann sein, daß die Frau etwas davon hat, daß sie diesen Dienst tut? Sie hätte dann etwas davon, weil sie ihm etwas zuliebe tut, wovon sie nichts hat. Und er hätte als seinen Genuß auch hauptsächlich ihre unterwürfige Dienstbarkeit. War er hier bei einem fremden Volksstamm, dessen Praktiken er zu studieren hatte? Ist also bei denen hier der Geschlechtsverkehr eine Veranstaltung haupt sächlich zu Gunsten des Mannes? Aber wenn es zu seinem Genuß gehört, daß sie auch genießt, muß sie doch auch genießen oder, wenn sie das nicht kann, so tun, als genösse sie. Wehe ihr, wenn sie, falls er es genießen will, ihr Genuß zu verschaffen, diesen Genuß nicht zeigen kann. Aber vielleicht soll hier die Frau, um den Mann zu steigern, beweisen, daß sie ihn mehr liebt als sich selbst. Und: daß sie ihn mehr liebt als er sich selbst! Das war¹s überhaupt. Da könnte er sich strecken und recken
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