Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
vier  Briefe  schreibt.  Der  Autor  im  Vorwort:  Auch  ein  alter  Knacker  könne  bis  zu  vier  Liebesbriefe  schreiben und immer noch aller Ehren wert sein, aber sechs  Liebesbriefe  könne  er,  ohne  sein  Gesicht  zu  verlieren,  nicht  schreiben. Gottlieb hatte sich die Stellen anstreichen müssen,  die ihn ganz direkt angingen. 
   
    Die  schlimmste Folter für mich ist, mich zu sehen,  wie Du mich siehst.                               
Seine  Themire  hatte  ihm  in  keinem  Brief  das  WARUM 
    erständlich   machen  können,  warum  sie  ihn  angeblich  liebe.  Und sein französischer Vorgänger war erst fünfzig gewesen.  Die  unglaubwürdigen  Zärtlichkeiten  der  Zwanzigjährigen  seien für ihn nichts als eine weitere Demütigung.  Ich liebe in  der furchtbaren Gewißheit, nicht geliebt werden zu können.  Gott iebs  Reiselektüre.  Er  stimmte  zu.  Und  widersprach.  Wehrte  sich. Forderte für sich die Ausnahme. Das Wunder. Je mehr  er  dem  Rousseauschen  Briefschreiber  zustimmen  mußte,  desto  heftiger  widersprach  er  ihm.  Und  kramte  in  seiner  Tasche  nach  dem  Blatt  mit  der  La  MettrieStelle,  die  jetzt  seine  Lieblingsstelle  war.  Hier  darfst  du  dich  zwanglos  dem  willkommenen Drängen der Natur überlassen. Dort mußt du dich  verkrampfen, mußt die Natur bekämpfen. Hier genügt es, sich nach  sich  selbst  zu  richten,  zu  sein,  was  man  ist,  und  gewissermaßen  sich  selbst  zu  ähneln;  dort  mußt  du,  ob  du  willst  oder  nicht,  den  anderen ähneln; leben und bald auch noch denken wie sie. Was für  ein Affentheater!  Und er hatte sich für das  HIER  entschieden:  Se  laisser  doucement  aller  aux  agr é ables  impulsions  de  la  nature.  Aber  auch  dazu  paßt  (in  seinem  Fall)  der  Ausruf:  Quelle  comédie!  
     
2. 
 
 
Fast  als  letzte  kam  sie.  Also  nicht  mehr  zwischen  Pas sagieren.  Fast  allein  kam  sie  aus  der  Tiefe  eines  langen,  breiten Gangs. Das Kosmetikköfferchen hatte sie in der Lin ken,  angewinkelt  vor  der  Brust.  Wahrscheinlich  aus  Gleich gewichtsgründen, weil sie mit der Rechten ein Gepäckstück  am  ausgefahrenen  Griff  hinter  sich  herzog.  War  das  so  schwer? Schleppte sie? Oder spielte sie eine, die schleppt? Sie  spielte  die  Schwache,  Kleine,  die  vor  Schleppenmüssen  gleich  Ohnmächtige.  Ihre  Hand,  in  seiner  Hand.  Nicht  quetschen wie Rick Hardy. Aber auch nicht so lasch fingern  wie Glen O. Rosenne. Zeig, was du gelernt hast. Er zog sie an  sich,  nahm  dann  ihren  Kopf  in  seine  Hände  wie  etwas  Kostbares und küßte sie eher andächtig auf die linke und auf  die  rechte  Schläfe.  Keine  wilde  Küsserei.  Andacht.  Andacht  empfand  er,  wollte  er  ausdrücken,  vielleicht  sogar  noch  mehr,  als  er  empfand.  Ihr  wollte  er  grell  zeigen,  daß  er  aus  sanftester  Andacht  bestand.  Alles,  was  gezeigt  wird,  ver selbständigt  sich  doch.  Die  Mischung  zwischen  Inhalt  und  Form  kann  bei  keinem  Schauspieler  anders  sein.  Er  hatte  ja  nichts  vorgehabt,  aber  jetzt,  da  er  ihren  Kopf  in  seinen  Händen hatte, überwältigte ihn diese Andacht. Und machte  sich  eben  selbständig.  Dann  hielt  er  ihren  Kopf  weiter  weg.  Offenbar  zur  Betrachtung.  Sie  ließ  sich  betrachten.  Er  betrachtete  sie.  Sie  ihn  eben  nicht.  Sie  war  ganz  in  seinen  Händen.  Das  war  eine  Rolle.  Die  füllte  ihn  ganz  schön  aus.  Mein  Gott.  Wer  war  er,  daß  er  ein  Mädchen  betrachten  durfte, als habe er es gemacht! Ihre Nase hatte er vergessen  gehabt.  Die  hatte  es  schwer,  sich  zwischen  den  großen  Augen  und  dem  fast  geschwollenen  Großmund  zu  be haupten. Ach, du, sagte er. Und ließ es erstaunt klingen. Du  auch,  sagte  sie.  Und  wie  sie  das  sagte.  Universell.  All umfassend.  Und  schloß  nach  dem  auch  den  Mund  nicht  mehr.  Die 

Weitere Kostenlose Bücher