Der Augenblick der Liebe
vier Briefe schreibt. Der Autor im Vorwort: Auch ein alter Knacker könne bis zu vier Liebesbriefe schreiben und immer noch aller Ehren wert sein, aber sechs Liebesbriefe könne er, ohne sein Gesicht zu verlieren, nicht schreiben. Gottlieb hatte sich die Stellen anstreichen müssen, die ihn ganz direkt angingen.
Die schlimmste Folter für mich ist, mich zu sehen, wie Du mich siehst.
Seine Themire hatte ihm in keinem Brief das WARUM
erständlich machen können, warum sie ihn angeblich liebe. Und sein französischer Vorgänger war erst fünfzig gewesen. Die unglaubwürdigen Zärtlichkeiten der Zwanzigjährigen seien für ihn nichts als eine weitere Demütigung. Ich liebe in der furchtbaren Gewißheit, nicht geliebt werden zu können. Gott iebs Reiselektüre. Er stimmte zu. Und widersprach. Wehrte sich. Forderte für sich die Ausnahme. Das Wunder. Je mehr er dem Rousseauschen Briefschreiber zustimmen mußte, desto heftiger widersprach er ihm. Und kramte in seiner Tasche nach dem Blatt mit der La MettrieStelle, die jetzt seine Lieblingsstelle war. Hier darfst du dich zwanglos dem willkommenen Drängen der Natur überlassen. Dort mußt du dich verkrampfen, mußt die Natur bekämpfen. Hier genügt es, sich nach sich selbst zu richten, zu sein, was man ist, und gewissermaßen sich selbst zu ähneln; dort mußt du, ob du willst oder nicht, den anderen ähneln; leben und bald auch noch denken wie sie. Was für ein Affentheater! Und er hatte sich für das HIER entschieden: Se laisser doucement aller aux agr é ables impulsions de la nature. Aber auch dazu paßt (in seinem Fall) der Ausruf: Quelle comédie!
2.
Fast als letzte kam sie. Also nicht mehr zwischen Pas sagieren. Fast allein kam sie aus der Tiefe eines langen, breiten Gangs. Das Kosmetikköfferchen hatte sie in der Lin ken, angewinkelt vor der Brust. Wahrscheinlich aus Gleich gewichtsgründen, weil sie mit der Rechten ein Gepäckstück am ausgefahrenen Griff hinter sich herzog. War das so schwer? Schleppte sie? Oder spielte sie eine, die schleppt? Sie spielte die Schwache, Kleine, die vor Schleppenmüssen gleich Ohnmächtige. Ihre Hand, in seiner Hand. Nicht quetschen wie Rick Hardy. Aber auch nicht so lasch fingern wie Glen O. Rosenne. Zeig, was du gelernt hast. Er zog sie an sich, nahm dann ihren Kopf in seine Hände wie etwas Kostbares und küßte sie eher andächtig auf die linke und auf die rechte Schläfe. Keine wilde Küsserei. Andacht. Andacht empfand er, wollte er ausdrücken, vielleicht sogar noch mehr, als er empfand. Ihr wollte er grell zeigen, daß er aus sanftester Andacht bestand. Alles, was gezeigt wird, ver selbständigt sich doch. Die Mischung zwischen Inhalt und Form kann bei keinem Schauspieler anders sein. Er hatte ja nichts vorgehabt, aber jetzt, da er ihren Kopf in seinen Händen hatte, überwältigte ihn diese Andacht. Und machte sich eben selbständig. Dann hielt er ihren Kopf weiter weg. Offenbar zur Betrachtung. Sie ließ sich betrachten. Er betrachtete sie. Sie ihn eben nicht. Sie war ganz in seinen Händen. Das war eine Rolle. Die füllte ihn ganz schön aus. Mein Gott. Wer war er, daß er ein Mädchen betrachten durfte, als habe er es gemacht! Ihre Nase hatte er vergessen gehabt. Die hatte es schwer, sich zwischen den großen Augen und dem fast geschwollenen Großmund zu be haupten. Ach, du, sagte er. Und ließ es erstaunt klingen. Du auch, sagte sie. Und wie sie das sagte. Universell. All umfassend. Und schloß nach dem auch den Mund nicht mehr. Die
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