Der Augenblick der Liebe
Zahlen reagieren zu können, also sagte sie: Fünf zu vier. Für sie. Als man wieder bei Atem war und immer noch zur Decke statt einander in die Augen schaute, sagte sie, ihre Organisiertheit, La Mettriesch gesprochen, sei schon ein Jammer, ausgerechnet bei ihrer Lieblingsbeschäftigung habe sie immer Schwitzhände und diese kalten Füße. Gottlieb holte sie schnell neben sich, drehte sich zu ihr hin und küßte ihr den Mund zu, daß sie nicht weitere Nachrichten dieser Art spenden konnte. Aber er war auch hingerissen vom Tat sächlichkeitsniveau dieser Mitteilung. Er mußte ihr das auch sagen.
Ich bewundere dich, sagte er.
Sie: Das darfst du. Besonders wenn du noch dazusagst, warum.
Wenn er es ihr auseinanderlege, Gründe formuliere, bleibe von der fühlbaren Wucht seiner augenblicklichen Bewun derung nur noch eine Inhaltsangabe. Er bewundere sie, weil sie durch eine solche glanzlose Mitteilung ihn und sich selber geradezu zusammenschmelze. Mehr Intimität als durch eine solche Schwitzhände und KalteFüßeMitteilung gibt es überhaupt nicht.
Als er ihr und sich seine Hingerissenheit und Rührung so aufsagte, riß er sich noch einmal hin und sie dann auch. Diesmal war er es, der sagte: Know the score. Er fand al lerdings, es sei höchste Zeit, daß sie wisse, was er hier brin ge, sei nicht seine Normalform, sondern das Ergebnis eines fast schon epochalen Staus. Also eine Ausschüttung von Angespartem, aber dann Hochverzinstem.
Diese Mitteilung war auch eine Folge ihrer Mitteilung über Schwitzhände und kalte Füße. Er hatte zwar ihre Mitteilung stürmisch begrüßt, aber ihm selber war der Eifer, mit dem er die Begeisterung über soviel Offenheit ist gleich Nähe produziert hatte, verdächtig. Er hatte den Schrecken nieder reden müssen, den ihre Mitteilung auch bewirkt hatte. Wirklich nicht nur Schrecken. Sie lag inzwischen daumen lutschend an ihm. Wie hätte er da nicht an Regina denken müssen! Und sagen mußte er ihr das auch. Auf Regina, die zwei Jahre jünger war als sie, war sie nicht eifersüchtig. Er brauchte jetzt das Reginaleben. Er floh ins Reginaschicksal. Von Julia wußte Beate soviel, von Regina so gut wie nichts. Du kannst ruhig weiter daumenlutschen. Regina hat von allen seinen Kindern am längsten und heftigsten daumen gelutscht. Jetzt ernährt sie einen Künstler, einen Bildhauer, der sich weigert, Aufträge anzunehmen. Für ihn wäre das Prostitution. Er formt nur Kugeln, setzt alles, was er macht, aus Kugeln zusammen. Menschen, Pferde, Wale, Geier oder Ideen, er kann alles aus Kugeln bilden. Er nennt sich: mystischer Bildhauer und Sphärist. Eines Tages wird die Welt sein Atelier stürmen und ihm alles aus den Händen reißen, bevor es fertig ist. Bis dahin muß Regina ihn ernähren. In einer Agentur für Zirkusartisten arbeitet sie. Und das in Wien. Am Telephon klingt sie, als mache es nichts als Spaß, ein Genie zu ernähren. Er hält es für eine Auszeichnung, ihn ernähren zu dürfen. Und Regina fühlt sich ausgezeichnet. Der Sphärismus wird für eine noch nicht absehbare Zeit die Kunstszene beherrschen. Die Kugel ist nun einmal das einzige Vollkommene überhaupt, Leben konnte nur auf einer Kugel entstehen, Uwe Seeler hat es goldrichtig formuliert: Das Geheimnis des Fußballs ist ja der Ball. Gottlieb hatte dem Sphäristen einmal einen Abend lang zugehört, seitdem begriff er, warum Regina bereit war, ihr Leben im Leben des Sphäristen beziehungsweise im Sphärismus auf oder vielleicht auch untergehen zu lassen. Die Unbedingtheit, mit der der an sich glaubte. Nein, nicht an sich, sondern
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