Der Augenblick der Wahrheit
jung waren, hatten sie weder die Mittel noch Zeit. Als sie älter wurden, gab es dafür keinen Platz mehr. Sie wohnten komfortabel, hatten gute Freunde, konnten es sich leisten, exotische Urlaubsreisen zu machen, umgaben sich mit schönen Dingen, waren gesund und liebten einander. Ihre Freunde betrachteten sie als ideales Paar. Von Illustrierten hatten sie mehrere Angebote erhalten, an immer wiederkehrenden Artikelserien über die Treue in den Neunzigern teilzunehmen, aber jedesmal hatten sie abgelehnt – obschon sie bestimmt Dinge zu berichten hatten, die für andere Menschen nicht unwichtig gewesen wären.
Sie leerte ihr Glas, und ich schenkte uns beiden nach. Sie hatte lange erzählt, und draußen wurde es allmählich richtig dunkel.
Der Kellner fragte, ob wir ein Dessert wünschten, und als sie den Kopf schüttelte, bestellte ich zwei Kaffee.
»Aber Niels und Clara lebten nicht glücklich bis ans Ende ihrer Tage«, sagte ich.
»Wie scharfsinnig du doch bist.«
»Es war nicht so gemeint.«
»Schon gut. Du hast ja recht. Wir lebten nicht glücklich bis ans Ende unserer Tage. Oder bis daß der Tod uns scheidet oder was sich moderne Menschen noch alles für’n Zeug in der Kirche versprechen. Vor dem Altar glauben wir sicher daran, aber unser Verstand muß uns doch sagen, daß es ein hoffnungsloses Unterfangen ist.«
»Hoffentlich nicht«, sagte ich.
»Da steckt wohl ein Romantiker hinter der rauhen Schale, was, Lime?«
»Ich war jedenfalls einer.«
»Ich vergesse deinen Verlust ab und zu. Entschuldige.«
»Nichts zu entschuldigen. Es muß ja weitergehen«, sagte ich.
»Das ist wahrscheinlich leichter gesagt als getan«, sagte sie, und wußte gar nicht, wie recht sie hatte.
Der Kellner brachte den Kaffee. Es war eine dieser modischen Kannen, in denen man den Kaffee hinunterdrücken muß, und mit einemmal überkam mich eine große Sehnsucht nach Madrid und einem echten Café solo, aber Clara schien den etwas faden Geschmack des Kaffees zu mögen, nachdem der Kellner am Tisch das Sieb in der Kanne nach unten gedrückt hatte.
»Was passierte dann?« fragte ich.
»Das ist nicht einmal spannend«, sagte Clara. »Eines Tages kam er nach Hause und war furchtbar nervös und abwehrend und sagte, er würde sich gern scheiden lassen. Genau so hat er es gesagt: ›Ich möchte mich gern scheiden lassen.‹ Als würde er mich um einen Gefallen bitten. Er hatte gefunden, was die Männer eine ›jüngere Ausführung‹ nennen. Es ist so verdammt banal. Als würde der Mann einfach sein altes Auto gegen ein neues eintauschen. Sie war Dezernentin in Brüssel. Sie hatten seit einem Jahr eine Beziehung. Meistens in Brüssel …«
»Wenigstens war sie nicht seine Sekretärin«, sagte ich.
»Was redest du denn da? Wär das ein Unterschied gewesen?«
sagte sie böse.
»Du sagtest Referentin. Wahrscheinlich ist sie Juristin oder Politologin oder so was …«
»Juristin, Französin, 32, schön, charmant … Sehr weiblich«, sagte Clara.
»Na, siehst du. Es brauchte viel, ihn zu erobern. Wäre es nicht schlimmer gewesen, wenn sie fünfundzwanzig gewesen wäre und seine Sekretärin?«
Sie schaute mich an.
»Manchmal überraschst du einen ja, Peter. Doch, es wäre ein Unterschied gewesen. Glaube ich. Aber bis jetzt hatte ich nicht daran gedacht. Denn für so blöd hielt ich Niels nun auch wieder nicht. Auch wenn manche Männer, wenn sie ein gewisses Alter erreichen, unberechenbar werden.«
»Aber du hast doch jetzt wahrscheinlich jemanden?« sagte ich.
Sie sah mich mit einem Blick an, als hätte sie die Frage erwartet, aber nicht so rasch.
»Ich bin mit niemandem zusammen, Peter. Wenn du das mit deiner Frage meinst. Nach Niels hatte ich Freunde, wie man in Dänemark sagt, als wäre ich eine Vierzehnjährige, aber keinen festen Freund, wie sogar Frauen meines Alters das in diversen Illustrierten zu nennen belieben, wenn sie sich verlieben.«
»Und dann?«
»Dann hab ich ihn rausgeschmissen, hab beim Scheidungsgericht abgesahnt und war kalt wie ein Fisch, als er nach einem Jahr von einem Irrtum redete. Da hatte er schon geheiratet. Es konnte gar nicht schnell genug gehen. Am liebsten auch ganz schnell sich wieder scheiden lassen und zu mir zurückkehren. Wenn ich ihn nicht für einen Dreckskerl gehalten hätte, hätte er mir um ein Haar leid getan. Er sei so verliebt gewesen, sagte er. Sie habe in ihm eine neue Männlichkeit hervorgerufen und lauter so’n Quatsch. Aber als die erste Flamme erloschen war, lief es
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